Zum neuen Bundeswehr-Weißbuch (Teil 2 und Schluß)
Kriegsabenteurer weiter am Werk
Obwohl die weltpolitische Lage eigentlich dazu herausfordert, hat das neue Weißbuch in der Öffentlichkeit bisher nur eine marginale inhaltliche Debatte ausgelöst. Anstelle einer wissenschaftlichen Analyse angenommener auf Deutschland gerichteter Bedrohungen, ist die Rede davon, daß „die internationale Ordnung im Umbruch ist“ und „Treiber des Umbruchs“ dafür verantwortlich sind. Weiter heißt es, das Umfeld sei noch „komplexer, volatiler, dynamischer und schwieriger vorhersehbar“ geworden. Das Wort volatil übersetzt der Duden mit flüchtig, verdampfend (chem.). Im Zusammenhang mit militärpolitischen Fragen kann es so gut wie alles bedeuten.
Anstatt die tatsächlich gegebene Bedrohungslage wissenschaftlich zu analysieren, wird zahlreichen Staaten kurzerhand „eine schlechte Regierungsführung und eine weitverbreitete Vetternwirtschaft und Korruption, die vielfach mit organisierter Kriminalität verflochten ist und innerstaatliche Konflikte sowie regionale und internationale Krisen befördern“, unterstellt.
Bei objektiver Betrachtung dieses Sachverhalts wäre an erster Stelle das Kernwaffenpotential der Länder zu nennen, die mit ihren Trägermitteln das deutsche Territorium erreichen können, unabhängig davon, wie sich gegenwärtig ihre bilateralen Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland darstellen. Konkret sind das: Frankreich, Großbritannien, die USA, Israel, Rußland und China.
Müßte man nun mögliche Bedrohungen durch Deutschlands Nachbarn befürchten? Bekanntlich grenzen an die BRD neun unmittelbare Nachbarstaaten, von denen sieben der NATO angehören und acht Mitglieder der EU sind. Österreich ist nicht in der NATO, aber EU-Mitglied, die Schweiz ist weder NATO- noch EU-Mitglied. Das macht deutlich, daß eine direkte Bedrohung Deutschland aus seinem unmittelbaren Umfeld nicht gegeben ist. Doch: Wie empfinden unsere Nachbarn das erneute deutsche Streben nach Vorherrschaft? Allein die ökonomische Stärke der BRD löst bei ihnen Besorgnis aus. Werden angesichts des immer lauter werdenden deutschen Führungsanspruchs nicht Erinnerungen daran wach, daß es vor nicht allzu langer Zeit deutsche Truppen waren, die ihre Länder überfallen, unterjocht und ausgebeutet haben?
Angenommen werden kann also, daß – auch aus dem realen Kräfteverhältnis zwischen der NATO und potentiellen Gegnern im weiteren Umfeld – Deutschland keine Bedrohung erwächst. Bedrohungen erwachsen dagegen zweifellos aus dem Cyber- und Informationsraum. Sie gehen nicht nur von potentiellen Gegnern, sondern auch von Verbündeten der BRD aus, insbesondere von den USA, wie sich bereits erwiesen hat. „Insgesamt hat sich der Cyber- und Informationsraum […] zu einem internationalen und strategischen Handlungsspielraum entwickelt, der so gut wie grenzenlos ist.“ Diese Einschätzung ist zweifellos zutreffend. Das Internet ist längst zu einer Zone geworden, in der offensive und defensive Aktionen stattfinden.
Die Feststellung, wonach „bewaffnete Konflikte, Verfolgung und Vertreibung, widrige wirtschaftliche, soziale oder ökologische Rahmenbedingungen sowie Armut oder Hunger weltweit Menschen dazu bringen, ihre Heimat zu verlassen“, klammert bewußt die Frage nach den Ursachen und Verursachern dafür aus. Wer hat Afghanistan, Irak, Libyen, Tunesien, Somalia, Syrien und Mali durch subversive und militärische Interventionen destabilisiert, ihrer Selbstbestimmung beraubt und sie in wirtschaftliches Chaos gestürzt? Es waren jene Staaten, in denen danach die Flüchtlinge angekommen sind.
Weiter steht im Weißbuch: „Deutschlands Sicherheit ist untrennbar mit der seiner Verbündeten in NATO und EU verbunden. […] Nur gemeinsam mit den USA kann sich Europa wirkungsvoll gegen die Bedrohungen des 21. Jahrhunderts verteidigen und glaubwürdige Abschreckung gewährleisten.“
Diese Aussage ist prinzipiell falsch. Die USA bedrohen gegenwärtig die ganze Welt, auch Deutschland.
Das Weißbuch macht deutlich: Deutschland sieht sich schon in der obersten Liga, im Kreis der global agierenden und dominierenden Mächte, als Großmacht. Daher der Anspruch auf „mehr Verantwortung“, also „mehr Einfluß“ in der Welt, wofür es der unmittelbaren Bedrohung der eigenen Sicherheit gar nicht mehr bedarf, um militärisch aufzurüsten und zu intervenieren. Es reicht schon aus, wenn die erklärten und weitgespannten Eigeninteressen irgendwo in der Welt gefährdet erscheinen. Das Weißbuch unterstreicht zumindest die Vormachtstellung Deutschlands in der EU, und es versteht sich wohl auch darüber hinaus als richtungsweisend, da es in eine Zeit fällt, in der die Karten unter den Großmächten zur Sicherung ihres regionalen oder globalen Einflusses neu gemischt werden.
Insoweit ist das Dokument ein Zeugnis des neuen Selbstverständnisses des deutschen Imperialismus, weit über rein militärpolitische und militärische Zusammenhänge hinaus. Die den Ergebnissen des II. Weltkrieges geschuldete, seit 1990 bereits abnehmende deutsche Zurückhaltung im Einsatz militärischer Mittel geht jedenfalls ihrem Ende entgegen. Der militärische Faktor soll offensichtlich erneut ein bevorzugtes Mittel der Politik werden. Damit wird die historische Erfahrung ignoriert, wonach Kriege die Probleme der menschlichen Gesellschaft nicht gelöst, dafür aber neue geschaffen haben. Zu fordern ist daher, die Prävention von Kriegen als wichtigstes Prinzip in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik zu verankern.
Denn wir befinden uns gegenwärtig an einem Wendepunkt der Geschichte – vielen ist der Ernst der Lage allerdings noch nicht bewußt. Politiker und Medien reden leichtfertig von Krieg und scheinen nicht zu wissen, was Krieg bedeutet. Wenn man die unklaren, wolkigen Formulierungen, sprachlichen Verschleierungen und artfremden Begriffe im Weißbuch liest, drängt sich der Verdacht auf, daß die Verfasser des Werks mit dem Feuer spielen wollen.
Vergleicht man das vorliegende Weißbuch 2016 mit der Militärdoktrin der Russischen Föderation (2014) und dem Weißbuch der VR China (2015), so liegen im wahrsten Sinne des Wortes Welten dazwischen.
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