Luther oder Müntzer?
Um es gleich vorweg zu sagen: es gibt kein „oder“ in dieser Frage. Dafür sind sie beide theologisch zu sehr verwandt, wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten. Aber beiden ging es darum, die nach ihrer Sicht „verkehrte Kirche“ wieder zur wahren Kirche zu machen. Wenn ich es richtig sehe, unterscheiden sich beide stärker in der theologischen Gewichtung der beiden Testamente. Während Luther wohl doch dem Zweiten Testament (bekannter als „Neues Testament“) eine größere Bedeutung einräumt, spürt man in Müntzers Argumentationen viel stärker sein Interesse am Ersten Testament (kirchlich abwertend als „Altes Testament“ bekannt). Vielleicht kann man schon deswegen eher davon sprechen, daß Müntzer in seinem Denken dem historischen Juden Jesus deutlich näher stand als Luther, der in der Endkonsequenz dem „auferstandenen Christus“ die entscheidende Bedeutung für sein Christsein und seine Theologie einräumte. Vielleicht ist auch von daher erklärbar, warum sich Luther dem altkirchlichen Antijudaismus so vorbehaltlos hingeben konnte, während von Müntzer meines Wissens keine judenfeindlichen Aussagen überliefert sind.
Im 500. Jahr der Reformation wird natürlich ungleich stärker, umfassender, um nicht zu sagen in geradezu pathetischer Weise der Wirkung und des Einflusses der Lutherischen Lehre auf den Gang der Geschichte gedacht. Und das tun auch die lutherischen Amtskirchen mit einer bemerkenswerten Selbstgewißheit und Selbstsicherheit, weil sie sich ja damit auf das Lebenswerk eines Siegers der Geschichte berufen können. Gibt es doch nach Luther benannte Kirchenorganisationen, Kirchengebäude, Städtenamen und Institutionen in Hülle und Fülle! Sich auf einen Verlierer der Geschichte zu berufen, bedarf mehr Kraft, tieferer Einsicht und schmerzlicher Rückblicke, als im Fahrwasser einer breiten Siegerehrung mitzuschwimmen. Wer die Müntzersche Regenbogenfahne hochhalten will, muß gegen diesen Strom schwimmen. Der muß sich zur Möglichkeit des Verlierenkönnens bekennen.
Thomas Müntzer predigt den Bauern
Holzschnitt: Conrad Felixmüller
In dieser Unterschiedenheit zwischen diesen beiden Theologen spiegelt sich m. E. die noch einmal 500 Jahre zurückliegende Spannung zwischen dem urchristlichen Glaubensleben und der Konstantinischen Wende zur Kirche des Christkönigtums, also der Staatskirche des christlichen Kaisers, wider.
Es taucht hier die spannende Grundfrage auf: War Jesus ein autodidaktisch gebildeter Quasi-Rabbiner, Reformer des spätjüdischen Lebens unter der römischen Besatzungsmacht – oder war er der Begründer und die Königsfigur einer neuen, der nichtjüdischen Religion des „Christentums“. In den Schriften des Zweiten Testaments (und wir haben nur solche Schriften, die erst Jahrhunderte nach seinem Tod abgefaßt wurden) wird er eindeutig als ein Mensch geschildert, der den Gesetzen des Mose verpflichtet ist, wichtige Bräuche des jüdischen Kultus teilt, wenn er z. B. am Donnerstag vor Pessach mit seinen Freunden vom Fleisch des vorgeschriebenen Pessach-Lammes ißt und Wein aus dem Seder-Kelch trinkt und ihn herumreicht. Andererseits verraten die am ehesten authentisch erscheinenden Überlieferungen aus seiner Bergpredigt, daß er der Auslegung der Mosaischen Gesetze eine neuartige, humane, mitmenschlich-soziale Dimension eröffnet. Die hungrigen Jünger (Freunde) dürfen auch am Sabbat Ähren ausraufen und die Körner verzehren, obwohl das nach den 613 Regeln des Talmud untersagt ist. Die Zuwendung von Hilfe für den notleidenden Mitmenschen ist für ihn unbedingt geboten und setzt alle tora-kultischen Vorschriften außer Kraft (geschildert am Beispiel des barmherzigen Samariters, der für gesetzestreue Juden nichts anderes als ein Ungläubiger war).
Nach meiner Erkenntnis muß man in Jesus einen Reformator des Judentums sehen, der das Pech hatte, daß er von den etablierten Religionsvertretern des Hohen Rates der Gotteslästerung bezichtigt und der Besatzungsmacht ausgeliefert wurde, um ihn als gefährlichen Störer des Althergebrachten aus dem Weg zu räumen.
Wenn wir jetzt in Gedanken den Sprung 500 Jahre weiter in der Geschichte machen und bei Luther und Müntzer landen, finden wir die beiden Reformatoren des Christentums fast einträchtig in ähnlicher Gefahrenlage vor wie Jesus vor dem Hohen Rat. Hier ist es zunächst Luther, der sich mit der päpstlichen Autorität anlegt und in Bann getan und für vogelfrei erklärt wird. Vielleicht hätte sich ja auch Jesus seiner Verfolgung entziehen können. Warum er es nicht tat oder warum es ihm – obwohl er es vielleicht tat – nicht gelungen ist, bleibt für unser Fragen unbeantwortet. Luther jedenfalls hatte so viel Lebenswillen und freilich auch Sympathisanten, daß er sich unter einem Decknamen in den abgelegenen Gemäuern der Wartburg verbergen konnte. Sie unterstand einem Fürsten, dem die Papstherrschaft schon lange ein Greuel war und der deshalb Luther als einen potentiellen Verbündeten zur Begrenzung der Papstherrschaft decken ließ. Als die größte Gefahr vorüber war, bot der ihm in seinem Wittenberg ein Terrain für die Verbreitung seiner neuen Lehre an – was zu dem vielzitierten (wenn auch nicht tatsächlich verbürgten) Thesenanschlag führte. Aber der päpstliche Bann war erst einmal gebrochen.
Ähnlich und doch ganz anders war die Situation für den genauso papstkritisch agierenden Müntzer. Er bewegte sich jedoch räumlich in Gegenden, wo es keine päpstlichen Kontrolleure gab. Einige Wochen in Prag, einige Wochen in Zwickau und schließlich ein ganzes Jahr (!) in Allstedt (die längste kontinuierliche Phase seines Berufslebens) redete er zu denen, die zu seinen Predigten strömten – und das waren Leute der unteren Schichten: Dienstleute, verarmte Handwerker, geschundene Bergknappen und ausgepreßte Bauern, die von ihm hören wollten, was die gute Botschaft („das Evangelium“) für ihr persönliches Leben bedeuten könnte. In diesen Predigten verkündete er diesen Menschen die Hoffnung auf den Anbruch eines „neuen Himmels und einer neuen Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt“ (Jesaja 60,21/2.Petrus 3,13). Und er erklärte ihnen auch eindeutig, daß die Herrschaft der Gottlosen dem Anbruch einer Welt der Gerechtigkeit und Liebe im Wege stehe. Daher gebe es keine andere Möglichkeit, als sie von ihrer Gottlosigkeit zu bekehren. Wenn sie sich aber nicht von diesem widergöttlichen Verhalten abbringen ließen, dann müsse man sie vom Thron stoßen und notfalls töten (Lukas 1,51–53). Dabei konnte Müntzer auf zahlreiche Analogien aus der Geschichte der Israeliten verweisen, die ebenfalls mit Gewalt gegen die damaligen falschen Götter wie Baal und ihre Priester vorgegangen waren – denn Gerechtigkeit und Barmherzigkeit im Volk konnte für sie nur von ihrem Gott kommen, der sie aus der Gewalt der ägyptischen Pharaonen durch seinen Diener Mose befreit hatte.
Immerhin waren Luther in Wittenberg und Müntzer in Allstedt bis zu diesem Zeitpunkt in einer etwa vergleichbaren Situation. Luther natürlich wesentlich komfortabler, weil er sich unter dem Schutz eines Reichsfürsten wußte. Dagegen hatte Müntzer in Allstedt lediglich eine enthusiastische Gemeinde an seiner Seite, und ein römischer Bischof oder sonstiger Administrator, die ihn von der Kanzel vertreiben konnten, waren weit weg von Allstedt. Aber die „Fürstenpredigt“, die er dort hielt, stellt den geistigen Wendepunkt in den Beziehungen der beiden Freund-Feinde dar.
Die werbenden, argumentierenden, auf Einsicht hoffenden Worte an die herzoglich-weimarische Obrigkeit hinterließen in den adligen Köpfen nicht die gewünschte Wirkung. Die Ankündigung, die verstockten Obrigkeiten würden wie vormals König Zedekia von Nebukadnezar bei Uneinsichtigkeit von den Thronen gestoßen, wurden als Frontalangriff auf die Gottesgnaden-Herrschaft eingeschätzt. Und die Rede davon drang auch bis nach Wittenberg an Luthers Ohr. Er aber, der gerade erst in seinem weisen Kurfürsten einen gnädigen Beschützer seiner Verkündigung gefunden hatte, sah in Müntzers Radikalität eine tödliche Gefahr für den Bestand der lutherischen Theologie heraufziehen. Und von diesem Zeitpunkt an war das Tischtuch zwischen ihnen zerschnitten. Mit ätzenden Wendungen und unflätigen Metaphern in Predigten und auf druckfrischen Flugblättern wehte der Unwille und Zorn Luthers bis nach Allstedt und bald nach Mühlhausen weiter, wohin der „Botenläufer Gottes“ ausweichen mußte, als ihm in Allstedt sein Pfarramt genommen wurde. Er wandte sich nach Mühlhausen und fand in der Freien Reichsstadt eine günstigere Konstellation für sein Wirken als im gräflich-obrigkeitlichen Dunstkreis des weimarischen Herzogs. Freilich blieb nun auch Müntzer kein anderer Weg, als dem neuen Widersacher Luther als dem „sanft lebenden Fleisch zu Wittenberg“ mit Häme und Verachtung zu begegnen. Originalton Müntzer: „Die Grundsuppe der Dieberei sind unsere Fürsten und Herren, nehmen alle Creaturen zu ihrem Eigenthum, die Fisch im Wasser, die Vögel in der Luft, das Gewächs auf Erden muß alles ihre seyn. Aber den Armen sagen sie: Gott hat geboten, du sollst nicht stehlen. Sie selber schinden und schaben alles, was da lebt; so aber ein Armer sich vergreift am Allergeringsten, muß er henken. Dazu sagt denn der Doctor Lügner Amen.“
Ausschnitt aus dem Panoramabild „Frühbürgerliche Revolution in Deutschland“
von Werner Tübke in Bad Frankenhausen
Doch die Krise war noch nicht auf ihrem Höhepunkt angekommen. Müntzer blieb bei seinem eingeschlagenen Weg, der Botschaft von der erneuerten Welt für den „gemeinen Mann“ den Weg zu bahnen. Von Mühlhausen aus rief er die inzwischen vereinzelt sich bildenden bewaffneten Bauernhaufen zu einem gemeinsamen Vorgehen auf. In dieser Organisierung von Gegenmacht zu den herrschenden Gebietsobrigkeiten sahen die thüringischen und die hessischen Nachbarherrscher eine bedrohliche Gefahrenlage für ihre eigene Herrschaft. Sie beorderten gut ausgerüstete Söldnertruppen zu den Bauernhaufen, die sich auf dem Schlachtberg bei Frankenhausen zusammengefunden hatten. Durch List und Täuschung gelang es ihnen, die Bauern zu überrumpeln und ein grausames Blutbad unter ihnen anzurichten. Die Bauern wurden Luthers Empfehlung entsprechend wie „tollwütige Hunde“ totgeschlagen und massakriert. An Müntzer wurde satanisch Rache genommen. Die Lutherischen sahen die Niederlage der Bauernrevolution als göttliches Strafgericht an.
Was blieb übrig nach Luthers partiellem Sieg und nach Müntzers totaler Auslöschung? Eine römisch-katholische Kirche, die sich 100 Jahre danach in blutigen, aufzehrenden und schrecklichen Wirren eines Dreißigjährigen Krieges zwischen papsttreuen und luthertreuen Herrschaften verwickelt sah und trotz beachtlichen Teilerfolgen bei ihren Rekatholisierungsbestrebungen nie wieder die totale Herrschaft über die Seelen der Menschen aufrichten konnte. Es blieb aber auch übrig ein Lutherisches Kirchentum, das seinen Gläubigen im nunmehr vollendeten Gehorsam gegenüber protestantischen Landesfürstentum eine etwas gemäßigte, in manchem verfeinerte Kirchlichkeit und bürgerliche Sittlichkeit vorgab. Der biblische Auftrag, die Glaubenden für ein Leben im Sinne der Bergpredigt zu ermutigen, wurde auf weite Strecken verdrängt. Judenverfolgung, Hexenverbrennung und Ketzervernichtung blieben Kennzeichen politisch-gesellschaftlichen Verhaltens sowohl der katholischen wie auch der protestantischen Hierarchien. Erst die alles Religiöse hinterfragende Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts nahm – nun im unreligiösen Gewande – den Ruf nach einer Welt der Gerechtigkeit und Freiheit für alle auf.
„Darum mußt Du, gemeiner Mann, selber gelehrt sein, damit du nicht länger verführt werden kannst!“ Diese Option Müntzers ist eine bleibende und immer neue Aufgabe. Seine Ablehnung der Kindertaufe bereitet den Großkonfessionen bis heute Ungemach und hat sich erst in den Gemeinden der Baptisten und Mennoniten bzw. Amischen durchgesetzt. Und diese lehnen auch den Waffengebrauch ab und die Eidesleistung. Der moderne Pazifismus und ein selbstbestimmtes Leben nach der eigenen Glaubensüberzeugung wird daher in den Kirchen nur von einer Minderheit vertreten. Aber die Müntzersche Regel „Omnia sunt communia“ (Alles ist allen gemeinsam), nach der bereits in den urchristlichen Gemeinden gelebt wurde, ist heute nur noch in einigen Kommunitäten zu finden. Die genossenschaftliche Bewirtschaftung von Land (LPG) und die genossenschaftliche Organisation von Handwerk und Gewerbe (PGH, GPG) blieb einer vorübergehenden Verwirklichung in der realsozialistischen Gesellschaft der DDR vorbehalten. Über sie ist freilich die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsformation 1990 bedenkenlos und nahezu flächendeckend hinweggegangen.
Was bleibt von Luther, was bleibt von Müntzer? Von Luther bleibt bis auf weiteres die Lutherische Konfession. Ob sie noch etwas Befreiendes für Kirche und Gesellschaft bereithält? Sie müßte für ihre eigene Abschaffung als staatliche alimentierte Glaubensgemeinschaft eintreten, um wieder etwas Strahlung auszusenden – eine eher schwer vorstellbare Wandlung.
Von Müntzer bleibt bis auf weiteres ein großes „schwarzes Loch“, sozusagen eine Fehlstelle im Horizont gesellschaftlicher Hoffnung. Immerhin, die DDR hatte kurz vor ihrem eigenen Erlöschen den aufständischen Bauern von 1525 auf dem Gelände des „Schlachtberges“ bei Bad Frankenhausen ein strahlkräftiges Erinnerungszeichen setzen lassen (das Bauernkriegspanorama „Frühbürgerliche Revolution in Deutschland“ des Leipziger Malers Werner Tübke). Es ist auch nicht auszuschließen, daß sich Mühlhausens Ratsleute noch einmal an den Ewigen Rat erinnern, den Bruder Thomas vor 500 Jahren ausgerufen hat. Für einen guten Rat ist es nie zu spät.
Peter Franz war von 1975 bis 1997 Lutherischer Pfarrer im Evangelischen Gemeindezentrum „Thomas Müntzer“ von Kapellendorf in Thüringen.
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