RotFuchs 218 – März 2016

Der Historikerstreit geht weiter

Lutz Jahoda: Über den Reichstagsbrand

Lutz Jahoda

Paßt scho!, heißt es in Bayern, wenn zum Ausdruck gebracht werden soll, daß etwas zu passen hat, auch wenn es nicht paßt. Manchmal kommt gewieften Suchern auch etwas zupaß, was heißt: Es kommt gelegen. Und auf dieser tragischen Ebene fanden sich zwei, die eine Menge Verwertbares an sich hatten: Marinus van der Lubbe im Jahr 1933 und Lee Harvey Oswald, dreißig Jahre später. Beide wurden als Einzeltäter dargestellt: Lubbe, leicht sehbehindert, soll im Alleingang den Reichstag angezündet, Oswald, ein nur durchschnittlicher Schütze, den US-Präsidenten John F. Kennedy erschossen haben.

Was van der Lubbe und Oswald einte, war kommunistisches Gedankengut, und was sich geradezu anbot, waren anregende Handlungen der beiden, die sich hervorragend eigneten, ein nahezu lückenloses Schuldpuzzle zu konstruieren. So hatte der Niederländer Marinus van der Lubbe dilettantisch versucht, das Wohlfahrtsamt in Berlin-Neukölln, das Berliner Rathaus und das Berliner Schloß in Brand zu setzen. Oswald hatte Russisch gelernt, die Schriften von Marx und Lenin studiert, war in Moskau gewesen, mit einer russischen Frau in die USA zurückgekehrt und hatte sich von ihr mit einem Gewehr fotografieren lassen. In beiden Fällen ausbaufähiges Grundlagenmaterial zu perfidem Gebrauch.

Die Nacht vor dem Reichstagsbrand, die van der Lubbe in einem Obdachlosenquartier am nordwestlichen Stadtrand von Berlin verbrachte – einen Tag nach seinem letzten mißglückten Zündelversuch – darf als entscheidende Kontaktnacht gelten. In dieser Nacht muß ihm eingeredet worden sein, alleine nichts, aber in Gemeinschaft einer guten Vorbereitung alles – und zwar etwas ganz Großes – erreichen zu können.

Und so war alles eingefädelt und vorbereitet an jenem Montagabend, dem 27. Februar 1933. Die Stabswache unter der Leitung von SA-Gruppenführer Karl Ernst war abgezogen worden und der Weg frei für die zehn SA-Experten, die in unauffälliger Zivilkleidung und ohne Gepäck vom S-Bahnhof Friedrichstraße am Spreeufer Richtung Reichstag entlanggingen, Halt machten am schmiedeeisernen Tor zum Garten des Reichspräsidentenpalais, in aller Ruhe aufschlossen und hinter der Mauer verschwanden.

Es lag Schnee in Berlin. Im Garten des Anwesens war die Schneedecke unbetreten rein. Jeder Einbrecher mit Verstand hätte Bedenken gehabt. Nicht die Männer im Auftrag ihres Anstifters. Sie fühlten sich von allerhöchster Ebene geschützt. Und so lagen auch schon im Heizkesselraum in unauffälligen Kisten die leicht entzündlichen Tinkturen bereit, die erforderlich waren, um die unsaubere Angelegenheit nachweislos sauber zu erledigen.

Die Streichhölzer und lächerlichen Kohleanzünder hatte Marinus van der Lubbe bei sich, der getäuschte, mit der Schuld-und-Sühne-Rolle betraute Sündenbock, der zeitversetzt bestellt war – für das Finale sozusagen –, während die Herren Brandstifter bereits mit den richtig und schnell wirkenden Utensilien unterwegs waren: mit Benzol, Phosphor und einer speziellen Terpentinersatzmischung.

Daß die Pyrotechniker ungesehen ins Reichstagsgebäude gelangen konnten, war dem Architekten und Baumeister Paul Wallot zu danken. Er hatte, eben aus Gründen des Brandschutzes, die Heizkessel und Maschinenanlage aus dem Reichstagsgebäude verbannt und die Rohre in einen Tunnel verlegt, der unter der Ebertstraße und unter dem Palais des Reichstagspräsidenten zu einem Heizhaus führte, 120 Meter östlich vom Reichstag. Und entlang dieser Heiz- und Lüftungsrohre und Telefonleitungen waren die Herren Pyrotechniker in den Reichstag hinein- und nach getaner Arbeit wieder herausspaziert.

Daß van der Lubbe unter Kontrolle des angeblichen Anarchistenfreundes aus dem Obdachlosenquartier zur richtigen Zeit und zur richtigen Tür in den Reichstag gelangen konnte, war Hauptteil des gut durchdacht ausgeführten Manövers Höllenfeuer, so daß es offenbar tatsächlich nur eines einzigen Streichholzes bedurfte, um die präparierte Innenausstattung des Plenarsaals innerhalb kürzester Zeit bis hinauf zur Kuppel auflodern zu lassen.

Vor lauter Erschrecken und Staunen über das Ergebnis wird van der Lubbe gar nicht mitbekommen haben, daß sein Begleiter nicht mehr da war, dafür die Polizei und Feuerwehr unheimlich schnell, als hätten die gleich um die Ecke gewartet. Da war der vorgetäuschte Anarchist und Nazihasser längst als Letzter im unterirdischen Durchgang mit dem Auftrag, die beiden Tunneltüren hinter sich wieder ordnungsgemäß zu schließen.

Sechs Stunden vor dieser Aktion hatte Rudolf Diels, Leiter der Preußischen Staatspolizei, an sämtliche Polizeistationen eine Order mit beigefügter namentlicher Verhaftungsliste all jener ausgegeben, die den Nazis auf vielfältige Weise schon immer im Wege waren. Die Prominentesten darunter: der Journalist Carl von Ossietzky, Herausgeber der „Weltbühne“, die Schriftsteller Egon Erwin Kisch und Ludwig Renn.

Und so brauchte Demagogenmeister Joseph Goebbels nur noch aus der Schublade die bereits druckfertig formulierte Verordnung „zum Schutz von Volk und Staat“ hervorzuholen. Sogar für das Ermächtigungsgesetz hatte er schon eine Überschrift: „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“. Das war die Freifahrt der Regierung Hitlers, nach Gutdünken Reichstag und Verfassung auszuschalten, die Tätigkeit der Kommunistischen Partei unter Strafe zu stellen und schließlich auch noch die SPD zu verbieten.

Selbst das Reichsgericht in Leipzig kam in seinem Urteil vom Dezember 1933 nicht um die Feststellung herum, daß Marinus van der Lubbes Rolle offenbar die war, „den Verdacht der Täterschaft, und zwar einer Alleintäterschaft auf sich zu lenken“.

Selbstverständlich hatte es eine Zusatzbemerkung des Reichsgerichts gegeben, daß der von „gesinnungslosen Hetzern“ der NSDAP zugeschriebene Brandanschlag „den gesinnungsmäßigen Hemmungen dieser Partei“ widerspreche, demnach derartige verbrecherische Handlungen von vornherein auszuschließen seien.

So wurde viel gerätselt, behauptet und wieder zurückgenommen. Ernsthafte Historiker, darunter Dr. phil. Walther Hofer, seinerzeit Professor für Zeitgeschichte an der Universität Bern, studierten Akten und bestätigten die Urheberschaft der Faschisten. Ein Hobby-Historiker mischte unter Mithilfe des Münchner Instituts für Zeitgeschichte mit und kam zu gegenteiliger Meinung. Der damalige Gestapochef Rudolf Diels gab nach 1945 die SA-Beteiligung zu, berichtigte seine Meinung im Alter, meldete Zweifel an. Hans Bernd Gisevius, am Aufbau der Gestapo unter Diels 1933 beteiligt, blieb bei seiner Behauptung, die sich mit der ersten Aussage seines Chefs deckte.

Marinus van der Lubbe starb drei Tage vor seinem 25. Geburtstag am 10. Januar 1934 in Leipzig unter dem Fallbeil. Die Männer des Tunnelkommandos starben im Projektilhagel einer Spezialeinheit der SS im Zuge der Röhm-Affäre im Hochsommer 1934, eines weiteren Liquidierungsauftrags Hitlers. Einer allerdings war den Schergen auf wundersame Weise entgangen: der Phosphorspezialist der Truppe. Laut Gisevius soll sich Göring während des Nürnberger Prozesses über diese Nachricht seines Verteidigers alles andere als gefreut haben.

Angeblich sei inzwischen, laut des Münchner Instituts, unter Historikern die Meinung vorherrschend, daß van der Lubbe doch als Alleintäter betrachtet werden müsse.

Warum auch nicht? Was in den USA mit Oswald funktionierte, muß doch, verdammt noch mal, auch in Deutschland zu schaffen sein.

Aber keine Bange, sagen die Wahrheitssucher: Der Historikerstreit wird weitergehen. Eine unendliche Geschichte.

Erstveröffentlichung in der „Deutschen Rundschau“, Kanada