RotFuchs 208 – Mai 2015

Vom Zarengeneral zum Stabschef der Roten Armee

M. D. Bontsch-Brujewitsch

Steffen Kastner

In den Tagen des Aufbruchs einer neuen Gesellschaft kommt es immer wieder vor, daß progressive Kräfte der überlebten Gesellschaftsordnung ihrer Klasse den Rücken kehren und sich der Revolution zur Verfügung stellen. Der General der zaristischen Armee Michail Dmitrijewitsch Bontsch-Brujewitsch gehörte zu jenen, die noch am Beginn des Ersten Weltkrieges auf Nikolai II. eingeschworen waren, die aber schon vor der Oktoberrevolution erkannten, daß sie historisch auf der falschen Seite standen und aus ihrer patriotischen Verantwortung heraus die richtigen Konsequenzen zogen. M. D. Bontsch-Brujewitsch, 1870 in Moskau geboren, war seiner ganzen Erziehung nach ein Repräsentant des Zarismus. Er hatte im Litowsker Leibregiment gedient, die Generalstabsakademie absolviert und zählte zu den befähigtsten und zuverlässigsten Offizieren. Sein Entwicklungsweg ließ keineswegs vermuten, daß er eines Tages zum militärischen Berater Lenins und der Bolschewiki werden würde.

Wie war diese Entwicklung möglich?

Lassen wir ihn selbst darauf antworten: „Auf welche Weise wurde ich, ein General des alten Regimes, der hohe Stabsfunktionen in der zaristischen Armee bekleidete, schon am Vorabend des Oktober ein Anhänger des mir damals nicht sehr verständlichen Lenin? Ich war an ein bequemes und privilegienreiches Leben gewöhnt. Man betitelte mich ‚Euer Exzellenz‘ und stand vor mir stramm.“

Und er kommt, 40 Jahre nach der Oktoberrevolution, zu dem Schluß: „Trotzdem diente ich der Revolution. Aber selbst jetzt, in meinem 87. Lebensjahr, kann ich, da mir weder Ausflüchte noch Mittel der List zu Gebote stehen, nicht sofort klar und präzise antworten, weshalb ich so gehandelt habe.“ Offenbar hat sich dieser Mann trotz seiner konservativen und streng religiösen Erziehung den Blick für die Realitäten des Lebens bewahrt und den geschichtlichen Entwicklungsprozeß wenn schon nicht gleich verstanden, so doch aber erahnt. Sein Abscheu gegen Korruption und Intrigen bewirkte, daß er die engen Klassenschranken überwand und sich von seinen ehemaligen Generalskollegen, Leuten wie Krasnow, Kornilow und Denikin, distanzierte.

Noch im Herbst 1917 ist M. D. Bontsch-Brujewitsch Oberkommandierender der zaristischen Truppen an der Nordfront. Doch in den Tagen der Oktoberrevolution wird er in seiner Eigenschaft als Garnisonschef Mitglied des Sowjets der Arbeiter-und-Bauern-Deputierten. Und nun überschlagen sich für ihn die Ereignisse: Schon im November 1917 wird er vom Rat der Volkskommissare zum Stabschef des Obersten Befehlshabers ernannt. Im Februar 1918 ist er mitverantwortlich für die Verteidigung Petrograds gegen die Weißgardisten. Im März 1918 wird er zum Leiter des Obersten Kriegsrates berufen, und in der Mitte des Jahres 1919 wirkt er – getragen vom Vertrauen der Bolschewiki – als Chef des Feldstabes der Roten Armee!

Im Schicksal von M. D. Bontsch-Brujewitsch wird einmal mehr deutlich, daß in den Reihen oder an der Seite der Kommunisten für jeden Platz ist – vorausgesetzt, er kommt mit dem festen Vorsatz, mit der Vergangenheit zu brechen und sich aktiv am Aufbau der neuen Gesellschaft des Sozialismus zu beteiligen.

Diesen Beitrag schrieb unser Nestor Helmuth Hellge im Oktober 1977 unter Pseudonym für die Westberliner Zeitung „Die Wahrheit“.