RotFuchs 216 – Januar 2016

Das Werk des großen Dänen war unbeugsamen
Menschenkindern gewidmet

Martin Andersen-Nexö
ehrte die Mütterlichen

Marianne Walz

Ein literarisches Werk kann Heranwachsenden zum Meilenstein werden – ähnlich wie einschneidende Erlebnisse reifer machen, wenn einfühlsame Begleiter dem Jugendlichen zur Seite stehen. Für mich rangiert unter diesen Büchern „Ditte Menschenkind“ von Martin Andersen-Nexö an vorderer Stelle. Der dänische Dichter (1869–1954) hat darin von einer proletarischen Frau um den vorvorigen Jahrhundertbeginn berichtet, „von ihrer endlosen Plackerei, ihrer unermüdlichen Fürsorge, ihrer nie versagenden Opferbereitschaft“. Doch mit trivialen Frauenromanen und bigotten Leidensglorifizierungen hat Dittes Geschichte nichts gemein. Die Heldin, das Menschenkind, eine von den Herrschenden ausgeplünderte und verachtete Angehörige der Unterklasse, bewahrt ihre Würde tapfer in endlosen Alltagskämpfen. „Ihr – (…) der unbeugsamen Mutter der Hoffnung – wollte ich mit meinem Buch ein Denkmal setzen“, wird der Autor auf dem Klappentext der 1957 im Berliner Dietz-Verlag erschienenen Ausgabe zitiert.

Martin Andersen-Nexö übersiedelte
1951 auf Einladung des sächsischen
Ministerpräsidenten Max Seydewitz
in die DDR. 1954 starb er 84jährig
in Dresden.

Als 14jährige habe ich einst in der Bibliothek nach dem Andersen-Band gegriffen und vermutete darin die geliebte Zauberwelt der Kinderjahre. Die Erzählung sollte mich fesseln von der ersten bis zur letzten Seite – und mich am Ende ein Stück weiter in das wirkliche, von Kämpfen bestimmte Leben hineingeführt haben. Suche nach Lebenssinn und Gerechtigkeit, nach dem Mann- und dem Frau-Sein, nach Antworten zu den großen Fragen über woher und wohin – sie treiben junge Menschen um, welche die Traumzauberwelt zu verlassen sich anschicken. Der Martin Andersen, der „Ditte Menschenkind“ schrieb, heißt nur zufällig wie der in Odense geborene Märchendichter. Der Namenszusatz Nexö auf Bornholm bezeichnet den Geburtsort des realistischen Literaten.

Bücherliebhaber wie ich nehmen die Phantasiegeschichten der Kindheit gern mit ins Leben. Doch als Erwachsene haben sie sich der Realität zu stellen und wissen, daß sich am Ende nicht alles selbstverständlich zum Guten wenden wird wie zum Beispiel in der Geschichte des Andersen-Odense über die kleine Meerjungfrau. Auch Ditte, die Heldin von Andersen-Nexö, wächst heran, aber nicht als Königskind, sondern als ein rechtloses, herumgestoßenes Landarbeitermädchen. Sie schuftet, leidet, hofft und liebt, und sie stirbt mit 25 Jahren. Ich habe sie beweint und wieder und wieder das Buch über sie zur Hand genommen.

Der 1946 von Bjarne Henning-Jensen verfilmte Roman „Ditte Menschenkind“ war ein großer Erfolg in den Filmtheatern vieler Länder, auch in denen der DDR. (Progress-Filmillustrierte, Berlin 1951)

Zunächst waren mir die Erfahrungen meiner literarisch-fiktiven Altersgenossin Ditte fremd. Denn ich selbst, zu Hause in einem fortschrittlichen, lesefreudigen Elternhaus und begleitet von Lehrern mit marxistisch-humanistischem Berufsethos, kannte weder Hunger noch Bildungsnotstand, weder körperliche Züchtigung noch seelische oder gar sexuelle Gewalt, weder soziale Ausgrenzung noch Perspektivlosigkeit. Ditte Mann aber muß sich von früher Kindheit an gegen all diese Widerwärtigkeiten behaupten. Martin Andersen-Nexö hat seine Heldin so lebendig gestaltet, daß sie mir zur Freundin wurde. Als unerwünschtes, unehelich geborenes Kind wohnt sie zuerst bei den Großeltern. Das Mädchen ist kräftig und lebensfroh. Ihren Alltag bestimmt die harte Arbeitsfron des Landproletariats. In ihrer Umgebung erlebt sie gewöhnliche Gaunereien, Korruption und ein übles Verbrechen. Stets muß sie aufpassen, wem sie vertraut, und sie selbst sieht sich isoliert und verspottet als die Tochter einer inhaftierten Mutter und eines Vaters, der das verachtete Schinder-Gewerbe ausübt. Später ist sie den Übergriffen dienstherrschaftlicher Söhne ausgesetzt und hat die Folgen allein zu tragen. Ditte verliebt sich, ihr Liebster verläßt sie, sie wird Mutter, und immer kümmert sie sich um Mitmenschen, fremde wie nahestehende. Ihren Freund und Gefährten Karl, einen Arbeiter, begleitet sie auf Versammlungen. Da denkt und redet sie mit, wenn Frauen und Männer über das Los der doppelt freien Lohnarbeiter diskutieren: „Glaubst du daß es für Sklaven eine andere Freiheit gibt als die, durchzubrennen? … Die andern haben die Freiheit – uns krepieren zu lassen, wenn sie keine Verwendung mehr für uns haben. … Demokratie heißt das wohl. …, man verjagt uns und fängt uns nach Belieben wieder ein. … Das ist unsere Freiheit.“ Und diese Stelle 2015 wieder lesend, kommen mir spontan die gängigen neoliberalen Begriffe „Humanressourcen“ und „Flexibilisierung des Arbeitsmarktes“ in den Sinn.

Am Ende ihres kurzen Lebens liegt sie zu Tode erschöpft darnieder. „Ditte findet, daß sie nichts ausgerichtet hat; und doch war’s, als ob sie eine furchtbare Bürde einen Berg hinangeschleppt hatte – bei diesen Sorgen um das bißchen Essen, Kleider, Wärme. Und jeden Morgen war im Laufe der Nacht die Last hinabgerollt und mußte wieder mühselig auf den Gipfel gebracht werden! Entsetzlich!“

Dittes Fieberphantasie ist die antike Legende vom Sisyphos. Ich hatte davon in Sagenbüchern gelesen; sie zeichnet das Menschenbild vom ewig Unterworfenen. Doch ein großer deutscher Denker setzte im 19. Jahrhundert seinen Entwurf dagegen. Den berühmtesten Satz aus Karl Marx’ Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie kannte ich inzwischen aus dem Schulunterricht „mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Martin Andersen-Nexö, der diese Verhältnisse aus eigenem Erleben kannte und ein streitbarer Marxist war, hat sie geschildert.

Sie sind zum Teil wiederhergestellt. Alleinerziehende Mütter in der Armutsfalle, soziale Ausgrenzung, Armut trotz Arbeit oder Benachteiligung von Arbeiterkindern bei den Bildungschancen sind in der reichen Bundesrepublik Deutschland traurige Realität.