Mein Vater war Kindergruppenleiter
in Heinrich Vogelers Worpsweder Heim
Der Artikel von Marianne Walz über Heinrich Vogeler im Juli-RF veranlaßte mich, in schriftlichen Hinterlassenschaften meines Vaters Richard Thiede, Leipzig, nachzuschauen.
„Bei mir gab es keine besondere Trennung zwischen ,Kinderland‘- und Jugendarbeit. Es war ein fließender Prozeß, der meine politische Entwicklung bestimmte. Auch wenn es uns als Arbeiterjugend im 1. Weltkrieg und den nachfolgenden 20er Jahren dreckig ging, waren für uns Klassenbewußtsein und ein fester Klassenstandpunkt Herzenssache. Wir waren und blieben vielseitig in Bewegung. Nichts konnte uns umwerfen, auch wenn es in den Reihen der organisierten Jugend damals sehr bunt ausgesehen hat“, las ich dort.
1978 notierte mein Vater: „Nach dem 1. Weltkrieg und der Novemberrevolution lautete bekanntlich die Parole: ,Der Kaiser ging, die Generale blieben.‘ Das galt für die gesamte Beamtenschaft, den Polizei- und Justizapparat sowie die alte Lehrergilde. Diese wirkte weiter als Jugendvergifter. Das war der Ausgangspunkt für den Kampf um ein Schulsystem, das allen Kindern armer Herkunft und ohne Geldbeutel eine neue, freie, einheitliche, weltliche, sozialistische Bildung vermitteln sollte.
In diesem Sinne betätigte sich auch Heinrich Vogeler vorbildlich und aktiv. Viel Wert wurde auf die Erziehung der Erzieher gelegt. Die Kindergruppenleiter, darunter auch ich, wurden geschult, mußten sich mit pädagogischen Fragen befassen und an Aussprachen in den Helfer-Zusammenkünften beteiligen. Damals las ich u. a. Heinrich Vogelers Buch ,Die Arbeitsschule als Aufbauzelle der klassenlosen menschlichen Gesellschaft‘. In diesem Geist wirkte eine Vielzahl sozialistischer und kommunistischer Lehrer …“
Mein Vater schrieb: „Der Maler Heinrich Vogeler stellte seine Künstlerklause, ein Bauernanwesen im Künstlerdorf Worpswede (Lüneburger Heide) in diesen Jahren der Roten Hilfe als Kinderheim zur Verfügung. Sein enger Helferkreis waren Jugendgenossen aus verschiedenen linken Organisationen – Kommunisten, Anarchisten, Sozialisten. Seine Wirtschaft wurde von zeitweiligen Hilfskräften aus der wandernden Jugend unterstützt. Ich selber hatte etwa drei Monate meiner Wanderschaft durch Deutschland dort Torf gestochen und so für die Winterbefeuerung mit gesorgt … All das und weitaus mehr – das Zusammengehörigkeitsgefühl und die gegenseitige Hilfe – waren gelebte Solidarität, die bis heute in uns fest verankert ist.“
Soweit die Notizen meines Vaters. Ich selbst besitze noch Heinrich Vogelers „Arbeitsschule“ und weitere Bücher dieser Art.
Der damalige Zusammenhalt der organisierten sozialistisch-kommunistisch-syndikalistischen Jugend sollte Beispiel für die Überwindung heute leider noch bestehender Uneinigkeit unter Linkskräften, Friedensfreunden und Kriegsgegnern sein. Mit Toleranz, Geduld und unter Zurückstellung von Rechthaberei wie dem Verzicht auf das „Kochen des eigenen Süppchens“ sollten wir uns alle um die Schaffung eines notwendigen Gegenpols zum Deutschland der Kriegstreiber und ihrer politischen Erfüllungsgehilfen bemühen.
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