Mein Weg vom Christentum
zum Kommunismus
Uns wird tagtäglich seit den 90er Jahren in den bürgerlichen Medien die angebliche Repression der Menschen in der DDR durch ihren Staat – auch gegenüber den dort lebenden Christen und der Kirche – vor Augen geführt. Von einer solchen Unterdrückung ist in bezug auf die alte Bundesrepublik so gut wie nie die Rede. Fälschlicherweise. Mein Bericht möge ein kleiner Beitrag zu der Frage sein, wie es wirklich mit der kirchlichen und staatlichen Repression im Westen stand.
Erste ordinierte Pastorin in Schleswig-Holstein
Geboren in dem kleinen Dorf Rederstall in Dithmarschen begann ich, Edda Groth, nach dem Abitur 1959 als überzeugte Christin mit dem Studium der Theologie. Als ich dasselbe und das Vikariat (die praktische Ausbildung) 1967 in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Schleswig-Holstein abgeschlossen hatte, wurde dort gerade das Gesetz verabschiedet, das auch den Theologinnen das volle Pfarramt zugestand. Ich erhielt somit als erste Frau die volle Ordination zur Pastorin und trat im April desselben Jahres mein Amt in der Simeon-Kirchengemeinde in Hamburg-Bramfeld an (kirchlich zu Schleswig-Holstein gehörig). Mein zweiter Glücksfall war, daß ich in dieser Millionenstadt die damalige „68er-Bewegung“ kennenlernen konnte. Sie war geprägt von neuen antiautoritären, sozialen und politischen Vorstellungen. An ihr beteiligten sich Schüler, Studenten, Gewerkschafter und Arbeiter, und es bildeten sich nach dem KPD-Verbot von 1956 neue kommunistische und sozialistische Gruppen und Parteien. Auf Demonstrationen und Versammlungen erhob man sich „gegen den Muff von 1000 Jahren unter den Talaren“, die niedrigen Löhne der „Proleten“ und den Hunger in der Welt, verursacht durch die reichen Industrieländer. Diese Anliegen machte ich mir schnell zu eigen.
Ev. Kirchentag, Stuttgart 1969: Mit dem Spruch „Kirchentag aktiv – Aktive auf die Bühne“ besetzten wir das Podium.
So führte ich im Kindergottesdienst, im Konfirmandenunterricht und in den Jugendgruppen die „antiautoritäre Erziehung“ ein und diskutierte schon mit den Sechsjährigen über biblische und aktuelle Fragen des Lebens. Auch die äußere Form wurde geändert: „Das ist ja zum Talar-Ausziehen“, sagte ich in einem damals modernen „Dialog-Gottesdienst“ und tat dies dann auch. Das war übrigens auch ein Beitrag zu der damaligen Kleiderfrage der feministischen Bewegungen, die gegen den Widerstand der Männerwelt auch als Frauen Hosen tragen wollten. 1969 fuhr ich mit einer Gruppe von Jugendlichen zum „Kirchentag“ nach Stuttgart. Das Motto „Hunger nach Gerechtigkeit“ und die Kernaussage „Keine Ausbeutung des Menschen durch den Menschen!“ gaben mir neuen Auftrieb. Mit den Jugendlichen forderte ich deren Selbstverwaltung – z. B. in finanziellen Dingen –, und wir gründeten einen „Jugendrat“. In Predigten, bei Vorträgen und auf Gemeindeversammlungen nahm ich Stellung zu politischen Themen (statt Luther erschien Angela Davis auf einem Wandbild im Altarraum) und forderte zusammen mit interessierten Gemeindegliedern „mehr Demokratie in der Kirche“, gründete zu meiner Unterstützung eine Kommune und gab als unser Sprachrohr die Gemeindezeitung „IN“ heraus.
Für oder gegen Pastorin Groth
In der Regel konnte ich mich mit meinen neuen Ideen auf große Teile der Gemeinde stützen. Vor allem die Eltern der Konfirmanden wollten eine aufgeschlossene, „modernere Kirche“. Bald traten aber auch die Gegner der Pastorin auf den Plan. So startete der alteingesessene Bibelkreis eine Unterschriftensammlung gegen meine „un-christlichen“ Erziehungsmethoden. Meine drei männlichen Kollegen und der wie üblich von Kleinbürgern besetzte Kirchenvorstand beschlossen in einem Antrag vom 26. Februar 1970, „daß Frau Pastorin Groth versetzt wird“, eine Maßnahme, die nach
§ 71 des Pfarrergesetzes der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland (VELKD) möglich ist, „wenn ein gedeihliches Wirken auf der bisherigen Pfarrstelle nicht mehr gewährleistet ist …“ Bei Propst Lehman in der Propstei Stormarn herrschte Empörung, als ich den anwesenden Pastoren nachwies, daß sie aufgrund des Pfarrergesetzes selbst politisch festgelegt und zur „Loyalität“ gegenüber dem Staat verpflichtet seien.
Der für mich zuständige Bischof Hübner in der Kirchenleitung in Kiel hatte mich schon öfter zu einem offiziellen oder auch inoffiziellen Gespräch eingeladen. Dabei ging es ihm fast nie um den „wahren Glauben“, sondern allein um die wichtige Frage, welche Politik in Staat und Kirche von mir betrieben wurde, bzw. betrieben werden durfte. Dennoch ließ er die von den Kirchenältesten beantragte Versetzung „stornieren“, und ich konnte drei weitere Jahre an der Simeon-Gemeinde – sogar mit einem eigenen Haus mit Jugend-Etage – im Amt bleiben. Der Grund war wohl: Meine Unterstützer und ich hatten Ende 1970 eine beeindruckende Gemeindeversammlung durchgeführt, auf der nicht nur Presse und Fernsehen, sondern auch – für Kirchen äußerst ungewöhnlich – an die 300 Gemeindemitglieder, Interessierte, Theologiestudenten und andere ebenfalls von kirchlicher Repression Betroffene erschienen waren. 225 Anwesende stimmten für meinen Verbleib in der Kirche. Danach blieb ich im Gespräch und fand viel Sympathie bei der Presse: Der Norddeutsche Rundfunk brachte wiederholt Interviews, und das NDR-Fernsehen drehte einen Film „Eva auf der Kanzel“ mit mir. Unsere Ziele fanden ein breites Echo.
Die „Mao-Predigt“ – antikapitalistisch statt antiautoritär
Am 9. Februar 1974 erklärte ich in meiner Konfirmationspredigt, daß ich von der bisher praktizierten antiautoritären Erziehung „abgesprungen“ sei und einen neuen Weg einzuschlagen gedächte. Weil „die ökonomischen Voraussetzungen in der kapitalistischen Gesellschaft eine Erziehung zum freien, selbständigen, gleichberechtigten Menschen nicht möglich machten, wenn nicht die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen insgesamt geändert würden“. Deshalb wolle ich zukünftig in diesem Land „den Kapitalismus selbst bekämpfen“ und Hinweise geben auf andere – sozialistische – Systeme und Länder in der Welt, wo politische Befreiung und soziale Verbesserungen stattgefunden hatten, wie z. B. in der Sowjetunion, in Kuba und in China. Provokativ schloß ich mit dem Satz: „In Gottes Augen sind letzten Endes nur die auf seiner Seite, die diese Welt zum Guten ändern, die sie wieder menschenwürdig machen und die für Gerechtigkeit auf Erden eintreten. In diesem Sinne – so wagte ich provokativ am Schluß zu behaupten – steht Mao mit allem, was er für das chinesische Volk getan hat, Gott näher als alle Bischöfe der letzten 1000 Jahre.“
Edda Groth (re.) im Gespräch mit Jugendlichen, 1970
Die Kirchenleitung ließ meine Predigt durch eine extra dafür eingesetzte kirchliche Kommission ausgiebig prüfen – ein halbes Jahr lang ohne Ergebnis. Einerseits – andererseits. Bekannt war natürlich, daß es damals eine ganze Reihe sozialistisch denkender und handelnder Theologinnen und Theologen in der BRD gab, wie z. B. Frau Dr. Sölle. Die Kapitalisten nahmen sofort in scharfer Form Stellung. So meinte der „Verein zur Förderung des Hamburgischen Wirtschaftslebens“, die – kirchliche – Bewegung zum Sozialismus hin werde mehr und mehr von Moskauer Spezialisten und von ihnen abhängigen Funktionären aus anderen osteuropäischen Ländern und der DDR ausgenutzt. Das forderte mich geradezu heraus, und ich begann nun gründlich den Marxismus zu studieren. Im Ergebnis verfaßte ich am 15. Juni 1974 einen „offenen Brief zur Frage der Zusammenarbeit mit Kommunisten in der Kirche“. Der Staat diene „mit seinen Gesetzen, Verordnungen, seiner Polizei, dem Bundesgrenzschutz und dem Militär den Interessen dieser Kapitalistenklasse. In eben diesem Maße ist auch die Kirche nicht frei von der Parteinahme für die Klasse der Kapitalisten. Das gilt es zu ändern.“ Jetzt zeigte sich die Kirchenleitung nicht mehr kompromißbereit, und mir wurde im September 1974 ein „Amtszuchtverfahren“ nach § 125 angedroht und ich mit sofortiger Wirkung suspendiert, denn „Pastorin Groth identifiziert sich mit den Zielen des Kommunismus auf der Basis der marxistisch-leninistischen Lehre … und verunglimpft ihre Kirche als eine dem Volk feindlich gegenübertretende und den Interessen des Kapitals hörige Institution“.
Christin – Kommunistin – Atheistin
Erstmalig erhob die Kirchenleitung auch den Vorwurf des Unglaubens: „Wesentlicher Bestandteil des Marxismus-Leninismus ist neben dem Ziel einer klassenlosen Gesellschaft auch die Überwindung der Religion.“ Natürlich begannen auch die Medien und Teile der Gemeinde mich zu fragen, ob ich denn überhaupt noch an Gott glaubte. Nein, das tat ich nicht mehr. Ich hatte inzwischen die Religion theoretisch überwunden und fühlte mich verpflichtet, dies allen meinen Unterstützern und der Gemeinde mitzuteilen. Sie sollten in dieser wichtigen Sache nicht getäuscht werden. Zumal ich meinen Pastorenberuf stets als wahrhaft frommer Mensch ausgeübt hatte. Ein ungläubiger Pfarrer ist nicht einfach nur ein liberal interpretierender oder schlechter, sondern ein betrügerischer Amtsinhaber. Ich erklärte meinen neugewonnenen Standpunkt in der Broschüre „Warum ich aus der Kirche austreten werde“ und trat im November 1974 auch tatsächlich aus. Ich hatte zuvor intensiv Feuerbach, Marx und Lenin zur Religionsfrage studiert und war zu der Erkenntnis gekommen: Nach Feuerbach nehmen die irdischen Mächte, die die Menschen erfahren, in ihren Köpfen die Formen außerirdischer (göttlich-mystischer) Gestalten an. „Mit dem hohen Stand an technisch-wissenschaftlichen Kenntnissen versteht und beherrscht der Mensch zwar weitgehend die Natur, aber die schreienden Widersprüche treiben das Volk in die Arme der Religiosität. Sie ersäufen ihre Ansprüche auf ein halbwegs menschenwürdiges Leben in der Religion.“ (Lenin „Über die Religion“) In einer bald darauf von mir und Helmut Lechner verfaßten Broschüre „Religion – Opium des Volkes“ erläuterten wir diesen Standpunkt auch über Hamburg hinaus einer breiteren Öffentlichkeit in der BRD.
Die Brücken waren abgebrochen, aber wie sich zeigte, nicht nur in bezug auf die Kirche, sondern auch auf den westdeutschen Staat und seine Institutionen. Ich verlor mit sofortiger Wirkung nicht nur mein gut bezahltes Amt – was ja in der Logik der Sache lag –, und sondern mußte mich ab sofort arbeitslos melden. Dabei entdeckte ich, daß laut Beamtengesetz für ehemalige Kirchenbeamte kein Anspruch auf Arbeitslosengeld bestand. Ersatzweise erhielt ich eine nicht existenzsichernde Arbeitslosenhilfe. Außerdem war ich durch die rege Pressetätigkeit in der BRD überall so bekannt geworden, daß mir selbst in einfachen Betrieben mit Hinweis auf meine Vergangenheit nur selten eine Anstellung gegeben wurde. Am schlimmsten aber: ich fiel voll unter die damals von Willy Brandt und der SPD eingeführten Berufsverbotspraxis im öffentlichen Dienst, in dem ich sonst natürlich als „erfahrene“ Lehrerin hätte arbeiten mögen. Die Gewerkschaft, die mir im beruflichen Kirchenkampf zunächst Unterstützung angeboten hatte, sprach sich nach meinem Austritt aus der Kirche mit dem Bischof ab und schloß mich aus der Gewerkschaft aus. Kirche und Staat funktionierten in engster Verbindung miteinander und gaben mir kaum eine Chance zu einem „normalen“ beruflichen Leben, geschweige denn zu einer akzeptablen Karriere. Keine Frage, daß ich gerade deshalb weiterhin intensiv politisch tätig geblieben bin.
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