Compañera Christa: Für junge und jung gebliebene RotFüchse
Meine frühe Kindheit
Ich bin ein Kriegskind, geboren im Jahr 1941. Als 20jährige habe ich meine Kindheitserinnerungen in einem Gedicht festgehalten. Es lautet:
Als Kind ging ich gern durch die Blumen
und mochte die Spitzen der Saat.
Da lag auf dem Feld in den Gräsern
ein junger toter Soldat.
Aus einer schlesischen Kleinstadt
war unser Treck gekommen.
Die Thüringer haben schnell noch
ihre Wäsche von der Leine genommen.
Als ich Brennesseln essen mußte,
fragt ich Mutter, ob Gott Winterschlaf hält.
Wenn statt blanker Regentropfen
Eisen vom Himmel fällt.
Der Junge, mit dem ich spielte,
der war am Morgen tot,
weil die Bombe das Haus zerstörte.
Und nachts war der Himmel rot.
Da kamen auch manchmal Kolonnen
mit vergittertem Blick und stumm.
Von Weimar her sind sie gekommen.
Und oftmals fiel einer um.
Wir spielten gerne mit Scherben,
die in den Trümmern lagen,
und einer alten Standuhr.
Doch die hat nie mehr geschlagen.
Erst als der Krieg zu Ende war,
wurde mein Schlaf ruhig und tief.
Und ich brauchte mich nicht mehr zu fürchten,
wenn ich zum Milchholen lief.
Ich schaue in den tiefen Brunnen der Kindheit und unter der siebten Haut zuckt manchmal die alte Kinderangst: Sirenen, Bomben, Brände und Betten im Keller. Die Mutter betet zu einem Stein. So fing mein kleines Leben an. Anfang Februar 1945, in der Zeit des totalen Krieges, mußten wir unsere Heimatstadt Liegnitz verlassen, weil die Ostfront vorrückte und Russen und Polen vor den Tore der Stadt standen. Ich war vier Jahre alt. Aber was weiß ein vierjähriges Kind schon vom Krieg?
„Der Krieg hat blutige Augen“, sagte meine sieben Jahre ältere Schwester Margot. Ich sah die Toten, aber ich glaubte, daß alles ein Spiel der Erwachsenen war, ein böses, schreckliches Spiel, dessen Regeln sie allein kannten. Sicher stehen die Toten gleich wieder auf, dachte ich.
Diese Erinnerungen sind dunkel und bruchstückhaft, aber sie haben sich eingebrannt: die endlosen Tage der Flucht in eisiger Kälte, in überfüllten Zügen, Kampieren auf Bahnhöfen, Erfrorene, deren Körper wie Bretter aufgestapelt wurden, Tiefflieger, Bombeneinschläge, Verwundete, Blut im Schnee und rundum fremde, frierende, hungernde Menschen, von Angst gezeichnet.
Und Schreie, die wie Glas in der eisigen Kälte zersplitterten. Ich klammerte mich an meine Mutter und meine große Schwester mit den schwarzen Puppenzöpfen. Sie war vom Schrecken wochenlang stumm geworden. Wenn Sirenen schrillten und Tiefflieger kamen, glaubte ich, das Auge des Todes beobachtete mich. Ich vermutete es am Himmel. Doch wir überlebten.
Eines Nachts hielt unser Zug im „Paradies“. So las Mutter laut das Bahnhofsschild. Es war der sogenannte Paradies-Bahnhof im thüringischen Jena. Bei Morgengrauen wurden wir mit Lastwagen auf die umliegenden Dörfer verteilt. Uns schleuderte der Zufall in das kleine Dorf Wogau bei Jena – als „Flüchtlinge“.
Ich weiß noch, daß uns die Bäuerin des Hofes, in den wir zwangseinquartiert wurden, an einen Holztisch in der Küche bat. Ich legte meinen Kopf auf die Tischplatte und weinte bitterlich, wohl vor Erschöpfung und Hunger. Meine Tränen hinterließen große dunkle Flecken auf dem Lindenholz. Die Bauern wollten uns nicht. Als Flüchtlinge blieben wir lange Zeit nur Geduldete.
Noch fast drei Monate dauerte der Krieg. Es kamen Tiefflieger, Bomben fielen auf Jenas Zeiss-Werke. Wir sahen die brennende Stadt. Die Flakgeschütze am Hang des Jenzig bellten, die Elendskolonnen der Buchenwaldhäftlinge kamen durch unser Dorf. Schüsse fielen, Hunde bellten. Dann erschienen die Amerikaner, die uns aus offenen Jeeps Kaugummi und Kekse, die nach Benzin schmeckten, zuwarfen. Kurz darauf trafen die Russen mit ihren Panjewagen ein, die von müden Pferden gezogen wurden. Die einen gaben uns Brot und nahmen uns auf den Arm, andere rächten sich für den erlittenen Schmerz um den Verlust ihrer Frauen und Kinder.
Im Mai kam endlich der Frieden. Die Landschaften des Krieges begrünten sich. Doch er warf noch lange, lange seinen Schatten.
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