Merkels Abwahl in Athen
Im Herbst 1952 begegnete ich als frischgebackener Berliner Jurastudent beim gemeinsamen Abräumen einer Trümmerlandschaft unweit des späteren Volksparks Friedrichshain einer Gruppe fremdsprachiger junger Leute. Der Elan dieser überwiegend dunkelhaarigen Mädchen und Jungen, die da inmitten der Ruinenfelder ihre Fahne in den Boden gerammt hatten und mit Leidenschaft uns unverständliche Lieder sangen, wirkte ansteckend. Es waren Söhne und Töchter von Angehörigen der Demokratischen Armee Griechenlands und vereinzelt sogar deren bisherige Kämpfer. Die Niederlage der bewaffneten Volkskräfte im Grammos-Massiv hatte sie ins Exil gezwungen. Die junge DDR bot ihnen Schutz an. Einer der Älteren unter ihnen wurde später mein enger persönlicher Freund: Thanassis Georgiu. Er heiratete eine Hiesige, blieb in der DDR, arbeitete jahrzehntelang als Journalist beim ADN und wurde später Korrespondent von „Rizospastis“, der kommunistischen Tageszeitung seines Landes. 2014 starb Thanassis im Alter von 100 Jahren in Berlin.
Ein anderer Grieche hat mir – trotz seiner ideologischen Metamorphose – stets besonders imponiert: Manolis Glezos. Einst riß er als junger Kommunist die verhaßte Hakenkreuzfahne von der Akropolis; jetzt steht er als greiser Antifaschist in den vorderen Reihen von Syriza und ist – im übertragenen Sinne – abermals daran beteiligt, ein anderes den Griechen verhaßtes Tuch von der Akropolis einzuholen: die Insignien der EU-Knebeler aus Brüssel und Berlin. Nicht ohne Grund jubelte man in Athen am Morgen nach dem Urnengang, es habe sich dabei um „Merkels Abwahl“ gehandelt.
Wiederum ist also Spannendes aus Hellas zu berichten. Dort hat zwar keine Revolution stattgefunden, zumindest aber ein bedeutsamer Stafettenwechsel, der Alexis Tsipras an die Regierungsspitze brachte. Unmittelbar nach seiner Vereidigung legte Griechenlands neuer Premier in Kaisariani, wo die Naziokkupanten am 1. Mai 1944 eine große Gruppe antifaschistischer Widerstandskämpfer ermordet hatten, einen Strauß roter Rosen nieder. Die meisten Opfer waren Kommunisten. Der Sieger vom 25. Januar, dessen Sammlungsbewegung 36,4 % der Stimmen erhalten hatte, gab mit seiner Geste ein erstes Signal der Bereitschaft zum Aufbrechen von Verkrustungen.
Auch wenn die über keine absolute Mehrheit der Parlamentssitze verfügende Koalition mit der Einbeziehung der rechtsgerichteten ANEL-Partei Zweifel an dem von ihr beanspruchten linken Profil aufkommen ließ, zeigten schon erste Schritte von Syriza-Ministern den Willen zu selbstbewußtem Handeln. So wandte sich Finanzminister Yanis Varoufakis beherzt gegen Versuche, den Griechen weiterhin die Würgeschlinge um den Hals zu legen. Er führte den Nachweis, daß die Milliardenkredite der aus Europäischer Union, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds bestehenden Troika die erbärmliche Situation der meisten einfachen Griechen in keiner Weise verbessert, sondern sogar noch dramatisch verschlechtert haben. Damit brachte er den wichtigsten Protagonisten beim Luftabdrücken, seinen BRD-Amtskollegen Wolfgang Schäuble, in Bedrängnis. Ein Novum! Auch wenn Hellas in der Euro-Zone und im EU-Bereich zu bleiben gezwungen ist, dürfte die Ära des einseitigen Diktats alter Manier so kaum fortzusetzen sein. Warten wir’s ab!
Fortschrittliche Kräfte in aller Welt gratulierten Tsipras und Syriza zum „eklatanten Wahlsieg“, wie es Belgiens Partei der Arbeit (PTB) ausdrückte. „In Griechenland hat nach vierzigjähriger Vetternwirtschaft der Neuen Demokratie und der PASOK zum ersten Mal eine andere Partei die Wahlen gewonnen“, konstatierte PTB-Präsident Peter Mertens. „Sechs Jahre nach Ausbruch der Krise und vier Jahre nach dem erpresserischen Memorandum der Troika haben sich die Griechen von der erzwungenen Politik permanenter Kürzungen abgewandt. Ein neuer Wind für ganz Europa weht aus Hellas. Hoffen wir, daß er mehr und mehr Menschen auf unserem Kontinent erfaßt und inspiriert.“
Jüngste Entwicklungen in anderen Regionen Südeuropas – denken wir nur an die breit gefächerte PODEMOS-Bewegung für einen Politikwechsel in Spanien, über deren Einordnung derzeit unter traditionellen Linken des iberischen Landes noch keine Einigkeit herrscht, oder an machtvolle Aktionen der Gewerkschaftszentralen CGIL und CGTP-Intersindical in Italien und Portugal – könnten Vorzeichen eines übergreifenden Wandels sein.
Schon vor geraumer Zeit hatte die Syriza-Führung Sondierungen unternommen, ob die vor allem im hauptstädtischen Bezirk Attika, aber auch in anderen Landesteilen weiterhin sehr einflußreiche KP Griechenlands (KKE) gegebenenfalls für eine Koalition zu gewinnen sei. Aus prinzipiellen Erwägungen wies diese damals das Ansinnen zurück, zumal sie sich nicht in die Rolle eines Juniorpartners von Syriza begeben wollte. Hierzu muß man wissen, daß die Gründer dieser heute wesentlich erweiterten Bewegung ursprünglich einer eurokommunistischen Abspaltung von der marxistisch-leninistischen KKE angehörten. Vor den diesjährigen Wahlen hatten die griechischen Kommunisten noch einmal betont, sie würden keine um eine Regierungsbildung bemühte Partei unterstützen. Ihr Generalsekretär Dimitris Koutsoumbas ließ wissen, die KKE, die ihren Stimmenanteil von 4,5 % auf 5,5 % erhöhen und 15 Mandate erringen konnte, wolle erst dann mitregieren, wenn das Volk an der Macht und der Reichtum des Landes vergesellschaftet sei. Hierzu gibt es in der kommunistischen Bewegung und darüber hinaus unterschiedliche Auffassungen.
Aufschlußreich ist übrigens das Debakel der langjährig regierenden sozialdemokratischen PASOK, die im Wahlkampf gespalten und weitgehend zerrieben wurde, so daß sie im Unterschied zu den Faschisten der „Goldenen Morgenröte“ hinter die KKE zurückfiel.
Während Tsipras, Varoufakis und andere politische Köpfe von Syriza bewußt darauf verzichten, die derzeit nicht auf der Tagesordnung stehende strategische Systemfrage für Griechenland zu stellen, nutzen sie andererseits vorhandene taktische Spielräume aus, wobei sie – besonders in den ersten Wochen ihrer Amtszeit – wesentlich stabiler gegenüber Brüssel auf den Plan getreten sind, als politische Beobachter vermutet hatten. Athens neue Regierende dürften indes alle Hände voll zu tun haben, die bisher de facto von jeglichen Abgaben befreiten hellenischen Millionäre und Milliardäre endlich zur Steuerkasse zu bitten. Auch über tatsächliche Spielräume zur Beseitigung von Arbeitslosigkeit (27 % – bei Jugendlichen sogar nahezu 60 %!) sollte man keine Illusionen haben, obwohl bereits etliche in letzter Zeit Entlassene wieder eingestellt und die drastisch gesenkten Mindestlöhne inzwischen deutlich angehoben worden sind.
Wie auch immer: Das symbolische Niederholen auch der zweiten Fahne deutsch-kapitalistischer Unterdrücker des griechischen Volkes von der Akropolis ist ein historischer Vorgang. Ein Grund, die Nachfolger von Manolis Glezos zu „Merkels Abwahl“ in Athen zu beglückwünschen.
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