Chile: Kühne Pläne, kluge Projekte und knallharter Widerstand
Michelle Bachelets zweite Amtszeit
Am 11. März wurde in Santiagos Präsidentenpalast La Moneda, wo Salvador Allende im blutigen Herbst 1973 den Tod fand, eine wichtige Wählerentscheidung realisiert: Die 62jährige Kinderärztin Michelle Bachelet, die einst als politische Emigrantin aus der Sozialistischen Partei in der DDR ihre Ausbildung abschließen konnte, wurde als Chiles drittes Staatsoberhaupt nach dem Sturz Pinochets in ihr Amt eingeführt. Der rechtsgerichtete Vorgänger Sebastián Piñera, der sich abermals beworben hatte, war beim Urnengang gescheitert. Während der Wahlkampagne hatte die erstmals von Sozialisten, Kommunisten und Christdemokraten gemeinsam unterstützte Politikerin unerläßliche gesellschaftliche Veränderungen in Aussicht gestellt: eine Bildungs- und eine Steuerreform sowie die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, welche an die Stelle des noch unter General Augusto Pinochet eingeführten Machwerks treten soll.
In ihrer ersten Amtsperiode hatte sich Michelle Bachelet unter Be-rücksichtigung des damals noch die politische Rechte begünstigenden Kräfteverhältnisses mit echten Reformschritten zurückgehalten. Die 34 Mitgliedsstaaten umfassende Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) – von Kubas „Granma“ als „Eliteklub reicher kapitalistischer Länder“ bezeichnet – wies Chile in puncto sozialer Ungleichheiten den ersten Platz in der Welt zu. Nach einer OECD-Studie sind in der Andenrepublik die Einkünfte des vermögendsten Zehntels der Bevölkerung 27mal höher als die des ärmsten Zehntels.
Nach offiziellen Angaben gelten allerdings „nur“ 14,4 % der Landesbürger als arm, davon 2,8 % als extrem verelendet.
Ein besonderes Protestpotential bilden seit Jahren die Studenten: Mit der damaligen Vizepräsidentin ihres Verbandes, der heutigen kommunistischen Parlamentsabgeordneten Camila Vallejo an der Spitze, führten sie einen landesweiten Streik für kostenlose und qualitativ hochwertige Bildungsvermittlung sowie die Beseitigung des sogenannten Universitäts-Busineß durch. Auch der Sorgen konsequenter Umweltschützer, der indigenen Mapuche-Bevölkerung und der Forderungen einer wieder erstarkenden Arbeiterbewegung wird sich Bachelets Regierung annehmen müssen. Innerhalb von sechs Jahren will die Präsidentin jegliche Studiengebühren für öffentliche Bildungseinrichtungen abschaffen und der Profitorientierung privater Schulen, die überdies auch noch staatliche Zuschüsse in Anspruch nehmen, ein Ende setzen. Um Chiles Bildungsreform finanzieren zu können, beabsichtigt sie, im Wege einer Neuregelung des Steuerwesens etwa 8,2 Milliarden Dollar einzuziehen, was etwa drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts entspricht. Bis heute ermöglicht das in Chile herrschende Bildungsprivileg der Reichen nur Kindern Besserverdienender den Zugang zu wirklich hochwertigen Elementar- und Sekundär-Schulen.
Bei den jüngsten Kongreßwahlen hat das Michelle Bachelet unterstützende Mitte-Links-Lager in beiden Kammern des Parlaments die Mehrheit zu erringen vermocht. Diese Tatsache ist entscheidend, um die geplante Fiskalreform auf den Weg bringen zu können, was durch eine 20- bis 25 %ige Erhöhung der Unternehmenssteuer angestrebt werden soll. Da es der Regierung aber an einer Zweidrittelmehrheit im Kongreß gebricht, dürfte die Umgestaltung des Bildungswesens auf erheblichen Widerstand stoßen. Er wird sich besonders gegen prinzipielle Änderungen der Lehrpläne, die Einschränkung der Gewinne privater Einrichtungen des Sektors und die Reduzierung der Einnahmen des Ministeriums für Bildungswesen richten. Die derzeit dieser Behörde obliegende Verwaltung der chilenischen Oberschulen soll dem Reformprojekt zufolge künftig den Kommunen übertragen werden. Sie verfügen aber bislang über keinerlei Mittel.
Unter diesen Umständen dürften sich aufreibende und ernüchternde Kompromißverhandlungen mit konservativen politischen Kräften und deren kapitalistischen Auftraggebern aus dem In- und Ausland kaum vermeiden lassen.
Ähnlich verhält es sich mit den Bemühungen um ein neues Verfassungsprojekt zur Ablösung der seit 1980 geltenden Pseudo-Konstitution. Es stößt auf erbitterten Widerstand des nach wie vor gut im Sattel sitzenden einstigen Pinochet-Lagers.
Zu den Prioritäten der Agenda Michelle Bachelets gehört in jedem Falle die Bewahrung der sie unterstützenden heterogenen Koalition antifaschistisch-demokratischer Kräfte. Von besonderer Bedeutung sind dabei die abermalige Einbeziehung der erstmals seit Salvador Allendes Tagen wieder regierungsbeteiligten KP Chiles. Die Partei von Luis Corvalan, Pablo Neruda und Gladys Marin ist im Kabinett durch die Frauenministerin vertreten. Hervorzuheben ist auch die Tatsache, daß Isabel Allende, Tochter des von Pinochets Schergen in den Tod getriebenen höchsten Repräsentanten der einstigen Unidad Popular, zur Senatspräsidentin gewählt worden ist.
Dem ersten von der neuen Regierung in die Tat umgesetzten Projekt lag ein Kongreßbeschluß zugrunde, zwei Millionen in besonders krasser Not lebenden Familien einen Sofort-Bonus über jeweils 40 000 Pesos zukommen zu lassen.
In außenpolitischer Hinsicht trägt sich Michelle Bachelet mit dem Gedanken, Chiles weitgehender Isolierung in der Region ein Ende zu setzen sowie im Rahmen der Bündnisse Unasur und Celac aktiv zu werden. Santiagos Beziehungen zu einigen Staaten des lateinamerikanischen Subkontinents hatten sich in den letzten Jahren merklich abgekühlt, nachdem Expräsident Piñera im Rahmen des 2011 durch die Andenrepublik, Kolumbien, Peru und Mexiko gegründeten Pazifikbündnisses einen eher auf die Interessen der USA und der einheimischen Oligarchien ausgerichteten Kurs eingeschlagen hatte.
Vor Michelle Bachelet und ihrem Kabinett stehen viel Arbeit und große Herausforderungen. Dabei sind ihr und den fortschrittlichen Kräften Chiles Mut, Ausdauer und Erfolg zu wünschen.
RF, gestützt auf „Granma Internacional“, Havanna
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