Worin sich Belarus von anderen
früheren Unionsrepubliken unterscheidet
Minsk – hautnah erlebt
Auf dem Herbsttreffen 2014 des Arbeitskreises Kultur- und Bildungsreisen der Gesellschaft für Bürgerrecht und Menschenwürde (GBM) sprach ihm die Botschaft der Republik Belarus eine Einladung nach Minsk aus. Der Zeitpunkt dieser Reise wurde so ausgewählt, daß die Teilnehmer die dortigen Festlichkeiten am 3. Juli – dem belarussischen Nationalfeiertag – miterleben konnten. Gespannt und erwartungsvoll begaben sich 47 Neugierige auf die Reise in die Hauptstadt von Belarus.
Was wußten wir von der einstigen Sowjetrepublik, die seit 1991 ein unabhängiger Staat ist, der geographisch an Rußland, die Ukraine sowie die NATO-Staaten Polen, Litauen und Lettland grenzt? Jedenfalls viel zu wenig! In den bundesdeutschen Medien wird über das 207 000 Quadratkilometer große Land mit 9,5 Millionen Einwohnern nur wenig und meist tendenziös berichtet. Weißrussen, aber auch Russen, Polen und eine kleine Minderheit Tataren leben dort. Uns war bekannt, daß die Belorussische SSR wohl am härtesten unter dem Terror der deutschen Faschisten gelitten hat. Fast alle Städte und größeren Ortschaften wurden durch die Okkupanten dem Erdboden gleichgemacht. Jeder vierte Einwohner fand den Tod, wobei die jüdische Bevölkerung fast gänzlich ausgerottet wurde. 1941 zählte man in Minsk etwa 240 000 Einwohner, von denen nur 50 000 den Krieg überlebten.
Als wir durch die modern gestaltete Stadt mit ihren breiten Alleen fuhren, kreisten unsere Gedanken immer wieder um diese furchtbare Vergangenheit. Erinnert wurden wir daran ganz besonders am Nationalfeiertag. Am 3. Juli 1944 war Minsk von den faschistischen Eindringlingen befreit worden. Alljährlich ehrt man in Belarus die Helden des Großen Vaterländischen Krieges. Auch unsere Gruppe brachte frische Blumen zum Siegesdenkmal, wo Präsident Lukaschenko Minuten zuvor einen Kranz niedergelegt hatte.
Später trafen wir uns mit Veteranen aus schwerer Zeit. Unter ihnen befand sich auch der 81jährige Wassili Knjasew, der als Junge mit der Roten Armee bis Berlin gekommen war. „Ich galt damals als ,Sohn des Regiments‘“, meinte er, den sowjetische Soldaten aus einem zerstörten weißrussischen Dorf gerettet hatten.
Im Rathaus der Stadt Minsk wurden wir durch den Sekretär des ZK der KP von Belarus, Igor Karpenko, der zugleich Stellvertretender Bürgermeister der Stadt ist, zu einem sehr informativen Gespräch über die aktuelle Entwicklung der Republik empfangen. Im Unterschied zu anderen einstigen Unionsrepubliken lehnt es Belarus ab, Großbetriebe zu privatisieren. Allein in der Hauptstadt sind etwa 300 wichtige staatliche Industrieunternehmen angesiedelt, die ständig auf das neueste technologische Niveau gebracht werden. Es wird weiter nach Fünfjahrplänen gearbeitet, und die Arbeitsplatzgarantie ist ein wichtiges Prinzip. 2014 sprach man von 0,5 % Arbeitslosigkeit, in diesem Jahr ist sie infolge westlicher Sanktionen auf etwa ein Prozent gestiegen.
Der Staat nimmt Einfluß auf den Immobilienmarkt, doch vor allem russische Oligarchen versuchen, sich dort Zugang zu verschaffen. Einer der riesigen Wohn- und Geschäftskomplexe im Zentrum von Minsk wurde von diesen errichtet und befindet sich in ihrem Besitz. Auf dem Lande werden die Kolchosen und Sowchosen durch eine andere Rechtsform ersetzt, die etwa jener der Agrargenossenschaften im Osten der BRD entspricht. Ein großer Teil der Produkte wird nach Rußland, das größter Handelspartner ist, exportiert. Vor der Ukrainekrise nahm die BRD diesen Platz ein.
Großes Augenmerk, erklärte Karpenko, wird auf gebührenfreie Bildung, ein entsprechendes Gesundheitswesen und die Förderung von Kultur und Sport gerichtet. Es gibt aber auch private Krankenversicherungen sowie Schulen und Hochschulen, bei denen die Bürger zahlen müssen.
Igor Karpenkos Grundaussage lautet: Belarus tendiert in seiner Entwicklung mehr zum Sozialismus als zum Kapitalismus.
Der Vizebürgermeister sprach von einer gemischten Wirtschaft und Gesellschaft. Keine noch zu Sowjetzeiten geschaffene Kultureinrichtung sei aus Geldmangel geschlossen worden.
Sorge bereitet den Weißrussen die Entwicklung in der Ukraine. Deshalb hat ihre Regierung Minsk als Verhandlungsort für die Konfliktparteien vorgeschlagen. Gegenwärtig leben in Belarus übrigens etwa 60 000 ukrainische Flüchtlinge.
Wir erfahren auch, daß die KPBR die einzige Partei ist, die im Parlament von Belarus Fraktionsstärke besitzt, während die übrigen Abgeordneten Einzelmandate wahrnehmen, da es keine der 15 weiteren Parteien auf mindestens fünf Sitze gebracht hat. Präsident Lukaschenko gehört keiner Partei an. Die KPBR unterstützt seine Politik und verzichtet für die Präsidentenwahl am 11. Oktober auf einen eigenen Kandidaten. Die Partei unterhält stabile Beziehungen zur DKP, nicht aber zur Partei Die Linke, die – wie uns gesagt wurde – keine Gesprächsbereitschaft mit den belarussischen Kommunisten bekunde. Von den recht großzügigen sozialen Bedingungen konnten wir uns in einem Minsker Kindergarten mit einer Kapazität von 253 Plätzen überzeugen. Während die Betreuung kostenlos ist, bezahlen die Eltern das Essen. Für kinderreiche Familien gibt es Sonderregelungen. Unterstützung erhalten auch jene fast zwei Millionen Weißrussen, die vom Reaktorunglück im ukrainischen Tschernobyl betroffen waren und z. T. immer noch unter den Folgen leiden. 135 000 Menschen mußten damals umgesiedelt werden. 20 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche von Belarus sind für immer verseucht.
In Minsk, wo es derzeit 33 Hochschulen und Universitäten gibt, wurden übrigens weder Straßen umbenannt noch wurde das Denkmal des belorussischen Revolutionärs Feliks Dzierzynski geschleift.
Auf der Fahrt über Land passierten wir eine Reihe von Dörfern mit „Präsidentenhäusern“. In den 90er Jahren hatte Lukaschenko verfügt, ausreichend Wohnraum auf dem Lande zu schaffen und die bis dahin überwiegenden Holzhäuser durch massivere Bauten zu ersetzen.
Viel zu kurz war unser Aufenthalt in Minsk und Umgebung. Er vermittelte uns indes einen Einblick in das Leben der freundlichen Menschen von Belarus. Unsere Wahrnehmungen entsprechen absolut nicht dem negativen Bild, das durch die Medien der BRD permanent vermittelt wird.
Nachricht 938 von 2043