Mit 22 ins Parlament
Ich hatte mir vorgenommen, Ingrid Wünsche, eine 22jährige Kandidatin für die Volkskammer, die oberste Volksvertretung der DDR, kennenzulernen. Mein erster Annäherungsversuch schlug fehl: „Montag habe ich den zweiten Hochzeitstag und möchte keinen Journalistenbesuch, auch nicht von einem ,Jugend‘-Redakteur.“
Beim zweiten Anlauf ein paar Tage später hatte ich mehr Glück: Während einer ihrer Wahlkampfveranstaltungen stand die junge Frau Oberschülern Rede und Antwort. Sie hatte Lampenfieber. Man spürte ein wenig Unsicherheit: „Und wenn ich keine Antwort auf eine Frage weiß?“ Einer der Anwesenden, der sie offenbar schon länger kannte, darauf: „Das wäre ja das erste Mal, Ingemaus, daß Du um eine Antwort verlegen wärst!“ Und während die Fragen der 18jährigen Schüler kamen, zögernd anfangs, später immer lebhafter, verriet Ingrid eine – wie ich meine – Abgeordnetentugend: Sie kann zuhören. Ihre großen, klugen Augen lassen den Fragesteller nicht los, sehr gewissenhaft schreibt sie alles mit. Und antwortet klar und präzis. Zum Beispiel auf diese Frage: „Ist es denn vertretbar, daß man schon mit 18 Abgeordnete werden kann?“ Ingrid: „Du meinst: Man kann als 18jähriger nicht alles. Das stimmt. In diesem Alter hat man aber oft schon eine große Verantwortung, muß seinen Mann stehen, auf der Arbeit oder sonst irgendwo. Sollten die jungen Menschen von der Machtausübung ausgeschlossen bleiben? Ich finde, die Jugend muß deshalb auf allen Ebenen in unseren gewählten Organen vertreten sein. Und noch etwas: Wo sollten wir das Regieren lernen, wenn nicht auch in unseren Machtorganen?“ Ingrid befriedigte auch die Neugier ihrer Zuhörer, warum und wie gerade sie als Abgeordnete der FDJ fürs Parlament vorgeschlagen worden sei. Weil ich es noch genauer wissen wollte, überprüfte ich ihre Worte ein paar Tage später in ihrem Betrieb.
„Ich habe mir gedacht, daß mal so was mit der Ingrid kommen muß, aber daß es gleich die Volkskammer wird, natürlich nicht“, meinte Karin, Freundin, Kollegin der Ingrid Wünsche. Und ähnlich dachten und äußerten sich die fünf anderen Mitglieder der Jugendbrigade „Artur Becker“ des Bereichs Farbfilmentwicklung 35 mm im DEFA-Kopierwerk Berlin. So auch, als sie ihre Meinung zum Kandidatenvorschlag der FDJ-Leitung sagen sollten. Sylvia Rieck, die FDJ-Sekretärin im Werk, erläuterte, warum die Wahl auf Ingrid gefallen war: „Wir kamen zu dem Schluß, daß wir einen Arbeiter unseres Betriebes vorschlagen sollten. Der Farbbereich 35 mm – das ist der größte Bereich, überlegten wir weiter. Vorbildlich in der Arbeit, als FDJler, in seinem ganzen Auftreten sollte der Kandidat sein – das war eine weitere Bedingung. Da sind wir auf die Ingrid gekommen – was denkt ihr darüber?“ „Sie hat’s verdient; zu ihr kann man kommen, wenn man was nicht richtig verstanden hat; ein dufter Kumpel, die Ingrid; es gibt keine Bessere!“ meinten sie, und es schwang immer ein bißchen Stolz mit, weil es jemand aus ihrer Truppe war. Sie hielten aber auch nicht mit kritischen Worten hinter dem Berg, fanden, daß Ingrid sich bemühen müßte, bei aller Unduldsamkeit gegen Mängel und Schwächen immer den richtigen Ton zu finden und nicht unsachlich zu reagieren, als Meistervertreterin lernen sollte, nicht alles alleine zu machen, sondern die Kollegen richtig einzusetzen. Als Einrichterin an den Entwicklermaschinen, das bescheinigten ihr alle, leistet sie Ausgezeichnetes, „Wenn es darum ging, sich eine Meinung zur Schichtarbeit, zum volkswirtschaftlich notwendigen 3-Schicht-Rhythmus, zu bilden oder wenn die Kollegen weiter lernen, sich qualifizieren sollten, da war sie nicht nur selbst sofort bereit, sondern suchte das Gespräch mit den anderen, um auch sie mitzuziehen“, erinnert sich Willi Heermann, der Parteisekretär des Betriebes, Ingrids Genosse, bei dem sie sich gerade in nächster Zeit manchmal Rat wird holen können. Das Verhältnis zwischen beiden – so schien es mir jedenfalls – ist ein sehr herzliches, kameradschaftliches, produktives, obwohl vom Alter und den Erfahrungen her viele Jahre zwischen ihnen liegen. Oder gerade deshalb?
Vorbild für die anderen zu sein, das war bei Ingrid nicht von Anfang an so. Sie, die bald – wenn alles gutgeht – ihren Meisterbrief in der Tasche haben wird, schloß die Lehre nur mit der Note 3 ab. „Es ging ihr nicht um eine Karriere“, erwähnt der Parteisekretär, „ich habe mit ihr oft gesprochen, ihr zugeredet, gesagt, daß sie mehr könne. Nach ungefähr drei Jahren hat es dann gefunkt.“ Daß der Knoten bei ihr platzte, dafür sieht sie vor allem zwei Gründe: einmal ihre Heirat vor zwei Jahren. Mit allen Fragen, die sie hatte, konnte sie ihm kommen, dem Feldwebel der Grenztruppen der DDR Jürgen Wünsche. „Warum ist es bei uns so und dort im Kapitalismus anders?“ prüfte sie sich selbst, als sie über die Arbeitslosigkeit, den Lehrstellenmangel, die Preistreiberei nachdachte – und fand nun schon alleine Antworten. Mit solchen und anderen Einsichten wuchs auch eine neue Einstellung zu ihrer eigenen Arbeit. Sie begann zu begreifen, daß es einen engen Zusammenhang gibt zwischen ihrer Arbeit und dem Wohl der ganzen Gesellschaft. Während sie dies alles beschäftigte, wurde ihr von einem Tag auf den anderen die Funktion des Einrichters anvertraut, für einen Kollegen, der zu den Soldaten gegangen war. „Mit der mir übertragenen Verantwortung“, so denkt sie heute darüber, „habe ich mich verändert, gesteigert, bin ich bewußter geworden, gewachsen.“
Etwas über sich zu erzählen, wie sie sich selber sieht, warum man auf sie gekommen sei, wo es doch im Betrieb noch eine Anzahl von möglichen jungen Volksvertretern gegeben hätte, fällt ihr sichtlich schwer. „Das mache ich nicht gern“, wehrt sie mehrmals ab, als wir uns zum Kaffeeplausch in ihrer Wohnung in einem Berliner Hinterhaus treffen. Komplimente verteilend und Kaffee schlürfend taste ich mich so langsam an den Grund meines Besuches heran: Wie sieht sie sich als Volkskammerabgeordnete, was hat sie sich vorgenommen? „Am Anfang“, so schätzt sie ein, „wird’s wohl darum gehen, sich an die Tätigkeit im Parlament zu gewöhnen, Augen und Ohren aufzusperren, noch viel, viel zu lernen. Noch bin ich gar nicht richtig über die Frage hinweg, die mir vor allem andere erklärt haben: ,Warum gerade ich?‘ Aber weil ich bei allem nicht allein stehe, eine starke FDJ-Fraktion neben mir weiß, eine Brigade, die schon laut und deutlich gesagt hat, daß sie mir helfen wird, ist mir nicht bange.“ Die Frage, ob sie Angst davor habe, vor der Volkskammer zu sprechen, erübrigt sich angesichts des Berliner Mundwerks und des Temperaments eigentlich und wird auch mit einem eindeutigen „Nö“ beantwortet und mit dem Nachsatz ergänzt: „Ich red’ halt so, wie mir der Schnabel gewachsen ist.“ Ingrid hat sich unter anderem vorgenommen, sich besonders um die Interessen der Jugend zu kümmern, der im Betrieb und im Wohngebiet, ihre Fragen und Vorschläge will sie unterbreiten, dafür sorgen, daß sich das Freizeitangebot weiter verbessert, weil auch sie gerne einmal tanzen geht. Womit sogar am Beispiel dieses Freizeitvergnügens gezeigt wird, daß die Interessen des Volkes dort am besten vertreten werden, wo Leute aus dem Volke als Volksvertreter ins Parlament einziehen, auch und gerade Arbeiter, 22jährige wie Ingrid Wünsche.
Aus „Jugend“, 1/1977
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