RotFuchs 234 – Juli 2017

Gedanken zur Zeit

Nach bestem Wissen und Gewissen

Theodor Weißenborn

Während meiner Gymnasialzeit – es war in der Adenauer-Ära – entbrannte in der Bundesrepublik Deutschland die Debatte um die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht. Das Thema wurde in der Öffentlichkeit wie in den Familien, aber auch in den Schulen heiß und kontrovers diskutiert, und so kam unser Deutschlehrer auf die Idee, uns als Hausaufsatz einen „Besinnungsaufsatz“ über das Thema „Allgemeine Wehrpflicht – ja oder nein?“ schreiben zu lassen, wobei uns das Ergebnis unserer Überlegungen freigestellt war.

Ich war zu der Zeit Mitglied der katholischen Jugendorganisation Neudeutschland, deren Düsseldorfer Ortsverband unser Religionslehrer (ein Priester) leitete, der uns jede Woche einmal in seinem Haus versammelte und uns dabei die jeweils aktuellen politischen und weltanschaulichen Direktiven erteilte. Auf die Frage, wie wir uns angesichts der Wehrpflicht entscheiden sollten, zitierte er den damaligen Papst (Pius XII.), der dazu gesagt habe, es sei „Gewissenspflicht des gläubigen Katholiken, das Abendland notfalls mit der Waffe in der Hand zu verteidigen“. Vielleicht hatte der Papst Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ gelesen und fürchtete weniger die gelbe als vielmehr die rote Gefahr – eine Furcht, die ihn als Apostolischen Nuntius dazu motiviert hatte, das Konkordat (Lat. concordia = Einklang der Herzen, herzliches Einvernehmen) mit Hitler zu schließen. Jetzt hatte er zwar nicht ex cathedra gesprochen, d. h. keine (vermeintlich unfehlbare) Entscheidung zu Fragen der Glaubens- und Sittenlehre verkündet, die für die gesamte katholische Christenheit gültig war, aber er hatte doch die Autorität seines Amtes – und als gläubiger Katholik, der ich damals noch war, fühlte ich mich durchaus angesprochen. Zudem: Meine Eltern waren CDU-Wähler – ich wußte also, was von mir erwartet wurde, und schrieb einen 36 Seiten langen Aufsatz, in dem ich mich für die Wiedereinführung der Wehrpflicht entschied und der – vermutlich nicht wegen seines inhaltlichen Fazits, sondern wegen seiner formalen Qualitäten – mit „sehr gut“ benotet wurde. Wir sollten einfach „nach bestem Wissen und Gewissen“ entscheiden, hatte der Religionslehrer noch gesagt. Das Gewissen (als die „Stimme Gottes“) sei für jeden einzelnen die höchste Instanz, der allein er verpflichtet sei. Da es allerdings auch ein „irrendes Gewissen“ gebe, müsse man sich jedoch auch in Gewissensfragen an „objektiven Normen“ orientieren, und dies seien die sittlichen Normen, die das Lehramt der Kirche verkünde.

So ließ ich mich rhetorisch auf den Leim führen, anstatt zu fragen, ob die Stimme Gottes womöglich die Stimme eines Irren, eines Schizophrenen, sei, der den Franzo­sen gebiete, gegen die Deutschen zu kämpfen, und gleichzeitig den Deutschen gebiete, gegen die Franzosen zu kämpfen, und wie ich denn „Gewißheit“ und sicheres „Wissen“ (beides stecke ja in dem Wort „Gewissen“) erlangen könne angesichts des Wirrwarrs von höchst widersprüchlichen Informationen von seiten aller möglichen Autoritäten oder Pseudo-Autoritäten, zerstrittener Parteien und mitunter auf hohem Niveau konkurrierender moraltheologischer Lehren und Irrlehren.

Denn das gerade ist ja das Problem! Wissen kann nur dann als gut, besser oder bestens bezeichnet werden, im Maße es gleichbedeutend ist mit Kenntnis und Erkenntnis des wahren Sachverhalts. Alles andere ist bloßes Für-wahr-Halten, Vermuten oder Glauben ohne Einblick in den Sachverhalt aufgrund einer Autorität, die ihrerseits lediglich angemaßt, verlogen oder im Irrtum befangen sein kann. Und was die „Stimme Gottes“ betrifft, so halte ich – aus meiner heutigen Sicht – dagegen, daß das Gewissen des einzelnen ein Sozialprodukt ist, nämlich das Ergebnis eines lebenslang andauernden Sozialisierungsprozesses, an dem Elternhaus, Kirche, Schule und alle nur denkbaren sozialen Kräfte beteiligt sind, mit denen der Mensch jemals in Berührung kommt. Die Crux meines Daseins in der Welt, die mich gerade in schwierigen Entscheidungssituationen bedrückt, ist dabei gerade mein unzurei­chendes Faktenwissen, meine Unwissenheit, meine Befangenheit und Borniertheit aufgrund nur kümmerlicher Providenz (Voraussicht), Verführbarkeit und schier unüberschaubarer Manipulierbarkeit. Die Qualität meines Wissens hängt stets ab von der Qualität (dem Wahrheitsgehalt) der auf mich einprasselnden Informationen, die im einzelnen zu überprüfen meine Kräfte maßlos übersteigt. Alle Staaten haben ein Propagandaministerium; das der Bundesrepublik hat den Namen „Presse- und Informationsamt der Bundesregierung“. Während des Faschismus war es das von Goebbels geleitete Reichspropagandaministerium. Aufgabe dieser Ministerien ist stets Beeinflussung der öffentlichen (und privaten) Meinungen, Indoktrination und dirigistische Lenkung, hinter der nicht immer die edelsten, sondern oftmals niedere, mitunter gar verbrecherische Interessen stehen.

Immer wieder stoßen wir auf das Dilemma der Fragwürdigkeit alles sogenannten Für-wahr-Haltens, Glaubens oder Wissens. Und nicht anders und nicht besser ist es um das „Gewissen“ bestellt als dem Hort der innersten Wertvorstellungen des Menschen. Es ist knetbar wie Plastilin. Hat die Gesellschaft ihm als höchsten Wert das Vaterland vermittelt, wird der Betroffene sagen: „Right or wrong – my country!“ Hat man ihn Liebe gelehrt, so kann er ein Menschenfreund werden wie Heinrich Pestalozzi.

So bleibt mir (und andern) als brauchbare Direktive für die Lebenspraxis in heiklen Entscheidungssituationen, zumal in tragischen Situationen, in denen nicht Wert gegen Unwert, sondern Wert gegen Wert steht, wohl nur die Möglichkeit der Ent­scheidung für jene Handlungsweise (im Tun wie im Unterlassen), die die größere Wert- und Sinnfülle verspricht, mit der Konsequenz, die sich daraus ergebenden Opfer tapfer in Kauf zu nehmen.

Wer sich also trotz der oben beschriebenen Schwierigkeiten der Wahrheitsfindung nach sorgfältiger Prüfung aller ihm zugänglichen Informationen und ohne seine innerste Überzeugung zu verraten zu einer verantwortbaren Entscheidung durchringt und danach handelt, der darf sagen: „Ich entscheide und handle nach bestem Wissen und Gewissen“ und wird gleichzeitig so ehrlich sein, keine Unfehlbarkeit zu bean­spruchen, und bescheiden hinzufügen: „Irrtum vorbehalten.“

Dies ist die unaufhebbare Crux unserer Existenz in einer tragisch strukturierten Welt, in der wir alle leben und mehr oder weniger gut zurechtkommen müssen, da eine andere und bessere uns vorerst nicht gegeben ist.