Nach der Wahl: Es bleibt alles ganz anders
In den 60er Jahren arbeitete ich in der USA-Abteilung des Außenministeriums. Der für uns zuständige Bereichsminister Georg Stibi – ein bajuwarischer Kommunist mit enormer Lebens- und Kampferfahrung – war zuvor bereits Chefredakteur des ND gewesen. Für eine äußerst wichtige Konferenz in Genf, an der die DDR erstmals gleichberechtigt teilnehmen sollte, hatte ihm sein persönlicher Mitarbeiter das Redemanuskript geschrieben. Stibi arbeitete den Text gründlich durch und vermerkte an einer Stelle: „Schwaches Argument, Stimme heben!“
An diese Episode mußte ich denken, als ich das plötzliche Wahlkampf-Rumgebrülle der sonst eher maulfaulen FDP-Politikaster Brüderle und Rösler vernahm. Es brachte ihnen und ihrem bankrotten Verein nichts. Das wohl erfreulichste am Ausgang der Bundestagswahlen war der eklatante Rausschmiß der FDP, die bisher 90 Mandate besessen hatte und über Nacht bei Null landete.
Allerdings steht nun eine deutlich weiter rechts angesiedelte, über einen offen faschistoiden Flügel verfügende Ersatzformation – die AfD – zur Auffüllung des Vakuums bereit. Um ein Haar wäre Henkels Partei schon diesmal in den Bundestag eingezogen. Als der bisherige FDP-Mann – er war langjährig Präsident des Unternehmerverbandes BDI – an der Gründungsversammlung der angeblich allein eurofeindlichen Allianz für Deutschland demonstrativ teilnahm und den neuen Deutschnationalen damit einen Persilschein ausstellte, waren die Messen für die FDP gesungen. Das BRD-Kapital hatte damit seine politischen Pferde neu gesattelt. Die Tatsache, daß 430 000 bisherige FDP-Wähler zur AfD wechselten, erscheint da beinahe als Normalität, während das Umschwenken auch von 360 000 offensichtlichen Protestwählern der Linkspartei zu dieser prononciert rechten Formation aufhorchen läßt.
Die Tatsache, daß es die offenbar vom Verteidigungsministerium gesponserten „Piraten“ – ihr Vorsitzender, de Maizières Ministerialdirektor Schlömer, quittierte nach dem Debakel sofort den Dienst an der Parteispitze – nicht in den Bundestag geschafft haben, beweist: Bisweilen verfängt auch die raffinierteste Maskerade nicht auf Dauer.
Noch vor der CDU führt mit 17,7 Millionen Stimmenthaltung Übenden die Zahl der Nichtwähler den Reigen der „Parteien“ an. Auch 587 000 ungültige Stimmen (1,3 % ) sprechen für sich.
Nicht außer Betracht lassen sollte man, daß die ohne Mandate gebliebene offen faschistische NPD immerhin eine halbe Million Stimmen erhalten hat.
Der Erfolg der CDU als der „Volkspartei“ des deutschen Kapitals war zweifellos ein persönlicher Triumph der mit ihren stets verfügbaren Allgemeinplätzen bisweilen geradezu unpolitisch wirkenden Angela Merkel. Sie hat in der DDR eine solide Ausbildung erfahren, die ihr auch heute noch Vorteile gegenüber dem Durchschnitt politisch Ungebildeter im bürgerlichen Lager einräumt. Frau Merkel dürfte weder eine Ideologie noch eine Religion besitzen, sondern eher über einen beispiellosen Machtinstinkt und die Eigenschaften eines politischen Chamäleons verfügen. Hätte die SPD 1990 die Wahlen gewonnen, stünde sie heute möglicherweise auf Sigmar Gabriels Posten. Angela Merkel, die mit ihrer Zwei-schlicht-zwei-kraus-Masche bei in dieser Hinsicht einfach gestrickten Mitbürgern verblüffend zu punkten vermag, sollte indes keineswegs unterschätzt werden. Wie sie es am Wahlabend im allgemeinen Freudentaumel der CDU-Prominenz verstand, ihrem sich nur durch seinen Borstenschnitt profilierenden Generalsekretär Gröhe die Deutschland-Fahne zu entreißen und – mit Blick auf Franzosen und andere in dieser Hinsicht Empfindliche – knallhart an den Bühnenrand zu befördern, war ein gekonntes Kabinettsstück.
Da es der CDU sowohl an der absoluten Mehrheit als auch an ihrem Wunschpartner FDP gebricht, ist guter Rat teuer. Der Redaktionsschluß hindert uns daran, bereits jetzt den Ausgang des Koalitionsgekungels zu kommentieren.
Doch das steht wohl fest: Würden die Grünen auf den schwarzen Leim kriechen, was ohne einen Jürgen Trittin und andere inzwischen Abgehalfterte durchaus denkbar wäre, dann hätten sie bei einem Großteil ihrer ohnehin geschrumpften Klientel wohl ausgespielt.
Wahrscheinlicher wäre derzeit ein SPD-Vizekanzler vom politischen Taschenformat des Schröder-Zöglings Gabriel. Der gilt jetzt – da Steinbrück, der zeitweilig Kreide gefressen und seine vorübergehend bemehlten Multimillionärspranken sorgfältig manikürt hatte, politisch verbrannt ist – als einer der Favoriten. Die empfindliche Wahlschlappe der SPD – sie mußte mit Merkels einstigem Finanzminister das nach 2009 zweitschlechteste Wahlergebnis ihrer Geschichte kassieren – wäre bei einer Kandidatin Hannelore Kraft wohl nicht so herb ausgefallen.
Als einzige Partei des Friedens und des Antifaschismus im Bundestag hat Die Linke trotz erheblicher Verluste insgesamt recht achtbar abgeschnitten. Zehn Mandate eroberte sie allein in NRW, was allerdings die tiefen Einbrüche in Brandenburg, Sachsen-Anhalt und anderen östlichen Bundesländern nicht wettzumachen vermochte. Die Stimmenhalbierung im Saarland geht wohl in erster Linie auf das Konto der gezielten Frustrierung des bedeutenden linkssozialdemokratischen Politikers Oskar Lafontaine.
Die Linke hat immerhin 3,75 Millionen Stimmen – 1,4 Millionen weniger als 2009 – erringen können und verfügt nun statt der bisher 76 Mandatsträger nur noch über 64 Abgeordnete im Bundestag. Ihr Stimmenanteil ging von 11,9 auf 8,6 % zurück. Doch dank des Verschwindens der FDP und des Abstiegs der Grünen wurde die Linkspartei zur allgemeinen Verblüffung drittstärkste parlamentarische Kraft des Landes. Sie wäre im Falle des Aufsaugens der SPD-Fraktion durch die Merkel-Regierung sogar fortan Oppositionsführerin im Bundestag. Deshalb fällt es der nach Kabinettsrängen gierenden Gabriel-Truppe so schwer, den Verlockungen einer „Machtbeteiligung“ zu erliegen.
Die Tatsache, daß sich etliche eindeutig auf antiimperialistischen Positionen stehende Abgeordnete der Linkspartei im Reichstagsgebäude behaupten konnten, ist ein Grund zur Freude.
Auch wenn das Gerangel noch eine Weile andauern dürfte, läßt sich schon jetzt mit Bestimmtheit sagen: Es bleibt alles ganz anders.
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