Nachklänge der „Karpaten-Rhapsodie“
des ungarischen Autors Béla Illés
Der heiße Atem der Weltgeschichte war in den 30er Jahren besonders stark in der Karpato-Ukraine zu spüren, die nach dem Ersten Weltkrieg an die neu gegründete Tschechoslowakei angegliedert wurde. In diesem ärmsten Winkel Europas, der viele Jahrhunderte lang zu Ungarn gehörte und etwa eine Million Einwohner zählte, lebten zahlreiche Nationalitäten: Ruthenen (später in der Sowjetunion als Karpato-Ukrainer bezeichnet), Magyaren, nahezu zwanzig Prozent Juden, Slowaken, Tschechen, Polen, Rumänen, „Zigeuner“ und auch Deutsche. Sie befehdeten sich auf Geheiß von Berlin, Budapest, Prag und Moskau. Die internationalen Konflikte spiegelten sich in diesem brodelnden Kessel wie das Meer in einem Tropfen.
Aber nicht nur die nationalen Zwistigkeiten schürten die Feindschaft. Die soziale Ungerechtigkeit schrie geradezu zum Himmel. Darüber berichteten nicht nur Iwan Olbracht und F. C. Weiskopf, sondern auch Anna Seghers und Ludwig Renn. Als Repräsentant der Internationalen Arbeiterhilfe besuchte Renn 1932 die „Hungergebiete“ und berichtete darüber in erschütternden Zeugnissen. Da ich wie Béla Illés aus dieser Gegend stamme und mehrfach über meine alte Heimat in der Presse berichtet hatte, faßte ich den Plan, Ludwig Renn auf einer Reise durch die Karpato-Ukraine zu begleiten, damit er den vollzogenen Wandel bescheinigen möge. Er willigte ein und freute sich schon auf die geplante Reise. Leider vereitelte sein Tod dieses schöne Vorhaben.
Natürlich habe ich das Wirken von Béla Illés aufmerksam verfolgt. Besonders lieb war mir die „Karpaten-Rhapsodie“ – sie erschien 1951 im Dietz-Verlag auf deutsch –, seine von revolutionärer Romantik durchdrungene Autobiographie. Darin spielen auch einige Verwandte von mir eine Rolle. Zum Beispiel Mihály Finczicky, der bis zu seinem Tode 1914 Bürgermeister von Ungvár, der Hauptstadt der Karpato-Ukraine, war und in seiner Freizeit die großen Romane der russischen Literatur ins Ungarische übertrug. Er stammte aus Ruthenien und editierte eine Sammlung dortiger Volkslieder. Doch im wesentlichen geht es in diesem Roman um den Freiheitskampf der Magyaren 1848 unter der Führung des legendären Lajos Kossuth und um die Ungarische Räterepublik von 1919, die sich immerhin 133 Tage lang tapfer behauptet hat. Und es geht um die Unterdrückung der Minderheiten.
Illés lebte und wirkte später in der Sowjetunion, wo er leitende Funktionen – unter anderem auch im Schriftstellerverband – bekleidete. Als Major der Roten Armee nahm er an der Befreiung Ungarns teil. Seine Liebe zum ungarischen Volk bekannte er in der ergreifenden Erzählung „Denn es ist ein gutes Volk“, in der seine Mutter ihn mahnt, mit seinen vielgeprüften Landsleuten human umzugehen. An einem schönen Sommertag – es mag Mitte der 60er Jahre gewesen sein – wandelte ich Arm in Arm mit ihm auf Berlins historischer „Flaniermeile“ Unter den Linden. Er hatte gerade die Stelle in meiner „Geschichte der ungarischen Literatur“ gelesen, die sein Werk betrifft, und sparte nicht mit Lob. „Mein lieber Landsmann, Freund und Genosse“, sprach er zu mir, „so eine einfühlsame und verständnisvolle Würdigung meines Schaffens habe ich selten gelesen.“ Vielleicht war es folgende Passage, die ihn so beeindruckt hatte. „Alles, was er schreibt, hat er miterlebt und mitgestaltet. Daher der Zauber der Unmittelbarkeit, den seine Bücher ausstrahlen. Er vermag das Wesen unseres durchaus politischen Zeitalters so ins Allgemein-Menschliche zu übertragen, daß man die Sache, für die er mit der Feder und der Waffe streitet, als die beste in der Welt ansehen muß.“ Und es mochte ihm auch gefallen haben, daß ich ihn als Fortsetzer und würdigen Nachfolger der heiter-humorvollen Erzählweise von Kálmán Mikszáth hinstellte, dessen Romane, so „Sankt Peters Regenschirm“ (Rütten & Loening, 1959) auch in der DDR sehr beliebt waren.
Natürlich unterhielten wir uns ausgiebig über unsere gemeinsame alte Heimat. Seit dieser Begegnung reifte bei mir allmählich der Gedanke heran, die „Rhapsodie“ fortzusetzen. Zehn Jahre lang schrieb ich an meiner romanhaften Autobiographie „Mit tausend Zungen – Beichte eines wechselvollen Lebens“, bis sie 1984 endlich erscheinen konnte.
2006 kam meine erweiterte Autobiographie „Wie die Jungfrau zum Stier wurde – Fluch und Segen eines Jahrhunderts“ heraus. Als „Jungfrau“ geboren, wurde ich später zum „Stier“, der die morsch gewordene Welt aufspießen und ändern will. Die Präsentation des Buches moderierte György Dalos, der Träger des Leipziger Buchpreises 2010. Er sprach u. a. davon, der Autor setze die besagte Traditionslinie von Mikszáth und Illés in der ungarischen Literatur fort, und empfahl, das Buch ins Ungarische zu übertragen.
Als meine Vaterstadt Ungvár durch den Wiener Schiedsspruch 1938 zu Ungarn zurückkehrte, bekam ich mit dem halbfeudalen Ständestaat Horthys erhebliche Schwierigkeiten. Nach und nach geriet ich als Student, später als Gymnasiallehrer und Rekrut in Konflikt mit dem Unterrichtswesen und dem Militär, ja sogar mit der Kirche. Das Duell, das ich mit einem arroganten Adelssproß zu führen genötigt war, fand eigentlich symbolisch zwischen mir und dem Horthy-System statt.
Nach der Befreiung fühlte ich mich wie einer, der aus der Wüste kam, um eine Botschaft zu verkünden und eine Schicksalswende einzuleiten. Meinen Vortrag über „Dostojewski und die Russen“, den ich wenige Monate nach Kriegsende an einem bitterkalten Sonntagvormittag im Kulturbund hielt, nannte Dr. Heinz Reinherz, der die Veranstaltung leitete und als Jude das „tausendjährige Reich“ überlebt hatte, eine „Sonntagsandacht neuer Art“. Ich redete und redete, und es knurrten schon die hungrigen Mägen, aber keiner wollte gehen. Ich schloß mit den Worten: „Jetzt, da wir tief gefallen sind und am Boden liegen, jetzt, da wir schlimme Not an Leib und Seele erleiden, jetzt wissen wir es besser denn je, daß der Mensch nicht allein vom Brot lebt, gerade in einer Zeit, in der Brot am knappsten ist. Die Sieger gebärden sich durchaus im Geiste ihrer großen humanistischen Romanciers Dostojewski, Tolstoi und Gorki. Sie betrachten uns nicht als unterworfene und gedemütigte Verlierer, sondern als Befreite, die es zu erheben und aufzurichten gilt.“
Anfang der 50er Jahre, als die alte Welt, gegen die ich rebelliert hatte, allmählich zurückkehrte und sich etablierte, übersiedelte ich mit meiner Familie vom Gesundbrunnen in den Demokratischen Sektor, die Hauptstadt der DDR. Als notorischer Einzelgänger hatte ich später nicht wenige Konflikte mit Behörden auszutragen. Dennoch fühlte ich mich in der DDR zu Hause, wie das Bruni Steiniger in ihrer RF-Rezension einfühlsam erkannt hat.
In vier Kulturen, der ungarischen, der tschechischen, der deutschen und der russischen groß geworden, bin ich bemüht, die Völker einander näherzubringen und den Humanismus mit neuen Inhalten zu füllen. Der Kapitalismus hat abgewirtschaftet, ist am Ende. Aber die „Rhapsodie“ von Béla Illés ist nicht verstummt, sie tönt fort und macht hoffen.
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