NATO-Kriegsbotschaft aus Warschau
Der Name der polnischen Hauptstadt löst unterschiedliche Assoziationen aus: Bilder vom Aufstand im Warschauer Ghetto und der Zerstörung der Stadt durch die Nazi-Okkupanten 1944, Erinnerungen an den Kniefall Willy Brandts 1971 als Geste für deutsche Schuld, das Wissen um den Warschauer Pakt und seine Bedeutung für den vierzigjährigen Frieden in Europa.
Karikatur: Klaus Stuttmann
Und nun im Juli 2016 die NATO in Warschau! Der Vergleich des Anliegens des Warschauer Paktes mit den Entscheidungen des NATO-Gipfels widerspiegelt nicht nur die völlig veränderte Weltlage, sondern ermöglicht auch den Vergleich der Strategien, die 1955 und 2016 mit dem Namen Warschau verbunden sind.
Der Warschauer Pakt wurde mit dem Ziel gegründet, die Freundschaft, Zusammenarbeit und den gegenseitigen Beistand der acht Vertragsstaaten zu gewährleisten. Der Pakt garantierte den zuverlässigen Schutz gegen die Roll-back- und Revanchepolitik der NATO, nicht zuletzt der BRD. Der Artikel 4 legte den gegenseitigen Beistand im Falle des bewaffneten Überfalls fest. Otto Grotewohl hob bei der Unterzeichnung des Warschauer Paktes seine Bedeutung für die Sicherheit der DDR und für den Frieden in Europa hervor. Der Frieden, der auf der gegenseitigen Abschreckung beruhte, war häufig ein Balancieren am Rande des Atomkriegs und verschlang Ressourcen, die anderweitig für die Lösung von Menschheitsproblemen hätten eingesetzt werden können. Die „Wende“ hätte auch eine radikale Wende auf dem Gebiet der Rüstung und Militärpolitik einleiten können. Eine Bedingung wäre der Austritt Deutschlands aus dem NATO-Kriegsbündnis gewesen. Jetzt ist der Streit über die völkerrechtlichen Grundlagen und politischen Konsequenzen der NATO-Osterweiterung in vollem Gange. Hier verweise ich nur auf folgendes: Die Entscheidung soll bei den Beratungen zwischen Kohl und Gorbatschow am 15. Juli 1990 in Moskau gefallen sein. Horst Teltschik, der Adlatus Kohls, notierte in „329 Tage“: „Ganz ruhig und ernst stimmte Gorbatschow zu, daß Deutschland weiter Mitglied der NATO bleiben kann.“ Prof. Rafael Biermann, der analysierte, „wie Moskau mit der deutschen Einheit rang“, fand, daß Gorbatschow sich nun „mit der NATO-Mitgliedschaft bei vollem NATO-Schutz für die DDR“ einverstanden erklärte. Im Gesprächsprotokoll Kohl – Gorbatschow vom 15. Juli 1990 ist (Dokumente Deutsche Einheit, S. 1346) zu lesen, daß Gorbatschow dem Verbleib Deutschlands in der NATO zustimmte, aber der Geltungsbereich nicht auf die DDR ausgedehnt werden dürfe. Die DDR-Bürger und deren Regierung wurden nicht gefragt. Einen Volksentscheid wie im Saarland oder später auf der Krim gab es in der DDR beim Anschluß nicht. Die kurzsichtige Entscheidung Gorbatschows, die auch den Interessen der UdSSR widersprach, war ein (honoriertes) Geschenk an den Imperialismus. Damals erhielt Gorbatschow den Friedensnobelpreis, heute protestiert er gegen das Vorgehen der NATO.
Helmut Kohl versicherte nach 1990, daß Deutschland nur noch von Freunden umgeben sei. Der Warschauer Pakt löste sich auf, womit auch das Märchen von der sowjetischen Bedrohung zu Ende ging. Warum sollte die NATO weiterhin existieren? Wieso konnten die Kohl und Co. ohne die „Osterweiterung“ der NATO nicht auskommen? Die einmalige historische Chance, Deutschland auf den Weg des Friedens zu führen, wurde leichtfertig vertan.
„Die Welt ist aus den Fugen geraten“, trompetete Steinmeier 2016 mehrfach in die Mikrophone. Warum das so ist, und welchen Anteil Deutschland daran hat, sagte er nicht. Es ist auch nicht bekannt, daß er gegen die Entscheidungen protestierte, denen die Kanzlerin in Warschau zustimmte: NATO-Truppen, auch deutsche, werden permanent im Baltikum stationiert. Sie führen Manöver unter kriegsähnlichen Bedingungen durch, die gegen Rußland gerichtet sind. Die Rüstungsausgaben werden beträchtlich erhöht, besonders durch Deutschland. Die Modernisierung und die Neustationierung von Atomwaffen werden forciert. Landgestützte Raketen werden in Rumänien, der Türkei und Polen als „Raketenschirm“ installiert.
Alles zusammengenommen bedeuten die Warschauer Entscheidungen die Rückkehr zum kalten Krieg unter veränderten Bedingungen. Die Gratwanderung am Rande des atomaren Krieges wird den Völkern bewußt aufgezwungen. „Der Spiegel“ (28/2016, S. 36), der bemerkt hat, daß gegenwärtig die „Scharfmacher“ den Ton angeben, zitiert den Befehlshaber der NATO-Truppen in Litauen, Jakob Larsen: „Wir müssen wieder lernen, den totalen Krieg zu führen.“
„Der Spiegel“ vermutet, daß der NATO-Offizier offenbar nicht weiß, daß der Aufruf zum totalen Krieg 1943 durch Goebbels erfolgte. Was berechtigt zu dieser Vermutung? Viele Indizien deuten darauf hin, daß der Offizier aussprach, was die NATO tatsächlich tut: Sie bereitet den Krieg gegen Rußland vor.
Wer die NATO-Politik und die Entscheidungen des Warschauer Gipfels aus der Sicht des Kreml betrachtet, kann nur „Putin-Versteher“ sein: Rußland ist eingekreist. Die Raketen, die auf Moskau gerichtet sind, stehen auch auf dem Boden ehemaliger Verbündeter, für deren Befreiung ungezählte Rotarmisten ihr Blut vergossen haben. Angela Merkel, eine Ex-DDR-Bürgerin, die in der Sowjetunion studiert hat, war die Hauptbetreiberin des Embargos. Kaum etwas löst soviel Zorn aus wie das Gefühl, verraten und hintergangen worden zu sein. Wenn Merkel die Ereignisse auf der Krim und in der Ukraine als Vorwand nimmt, entlarvt sie sich als Heuchlerin, die für einen Dialog völlig ungeeignet ist. Auf der Krim wurde im Unterschied zum Anschluß der DDR das Selbstbestimmungsrecht der Bürger respektiert. Auf dem Maidan kreuzten bei den regierungsfeindlichen Demonstrationen deutsche Außenminister auf. Ist es vorstellbar, daß vor dem Brandenburger Tor etwas Ähnliches durch einen Moskauer Politiker erfolgt?
Es bleibt bei Erkenntnissen, die die SPD vor 1989 auch mit der SED teilte: Die Menschheitsprobleme sind nicht durch militärische Mittel zu lösen, auch nicht durch „Säbelgerassel“ (Steinmeier). Sicherheit ist nicht gegen, sondern nur mit Rußland zu haben. Mit Bismarck: Deutsche Politik fängt mit guten Beziehungen zu Rußland an. Was liegt im Interesse deutscher Bürger: Rüstung und Krieg oder friedliche Nachbarschaft, die vor kurzem noch friedliche Koexistenz hieß? Politik basiert auch auf Vertrauen in den Partner. Welcher deutsche Politiker genießt in Moskau noch Vertrauen? Wie reagiert das leidgeprüfte russische Volk auf die Beschlüsse von Warschau?
Einige Journalisten scheinen zu ahnen, daß die Fortsetzung dieser Politik in die Katastrophe führt. Frank Grubitzsch schrieb in der „SZ“: „Doppelstrategie gegen Putin geht nicht auf.“
„Der Spiegel“ (28/2016, S. 82 f.) ließ einen Berater Putins, Sergej Karaganow, zu Wort kommen. Der Kremlberater sprach von einer Vorkriegssituation und von einer Propaganda, die an einen neuen Krieg erinnert. „Aber was macht der Westen? Er verteufelt Rußland nur noch.“
Bleibt nur zu hoffen, daß Wladimir Putin die christliche Feindesliebe und die aufklärerische Vernunft höher achtet als die Kanzlerin, die sich auf das christliche Abendland beruft!
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