Ausländerfeindlicher Mob rief
Erinnerungen an Lichtenhagen wach
Nazi-Hetze in Hellersdorf
Ein ausländerfeindlicher Mob, der aufgeputschte Bewohner des betroffenen Viertels zu neutralisieren oder auf seine Seite zu ziehen vermochte, hat während des Sommers den Berliner Stadtteil Hellersdorf beunruhigt. Das, was die faschistische NPD und andere Nazi-Organisationen gegen die Einrichtung einer Notunterkunft für etwa 200 syrische Kriegsflüchtlinge entfesselten, war Volksverhetzung im strafrechtlichen Sinne. Rassistische Parolen wurden gebrüllt, Morddrohungen ausgestoßen, Rufe wie „Deutschland den Deutschen!“ waren zu vernehmen. Auch die von der BRD legalisierte NPD-Wahlparole „Guten Heimflug!“ durfte da nicht fehlen. Der Ruf „Die sollte man alle vergasen!“ beschwor die Erinnerung an Auschwitz. Welch Geistes Kind einige der Akteure sind, zeigten T-Shirts mit der Aufschrift „22.–26.“ Sie sollten die faschistischen Exzesse ins Gedächtnis rufen, die sich vor 21 Jahren in Rostock-Lichtenhagen zugetragen hatten. Seitdem sind 180 Menschen in der BRD Opfer rechtsradikaler und ausländerfeindlicher Gewaltakte geworden. Eine bürgerliche Zeitung kommentierte das Geschehen in Hellersdorf mit den Worten: „Manchmal liegen zwischen Zivilisation und Barbarei nur Millimeter.“
Tatsächlich bekundet – repräsentativen Umfragen zufolge – inzwischen jeder vierte Bundesbürger Ressentiments der hier geschilderten Art. Jeder zweite Deutsche meine, es gebe zu viele „Fremde“ hierzulande. Die Friedrich-Ebert-Stiftung erklärte dazu, Ausländerfeindlichkeit sei in der BRD „kein Randproblem, sondern eines aus der Mitte der Gesellschaft“.
Die ganze Wahrheit ist weitaus ernster. Seit Jahr und Tag haben sich führende Politiker etablierter Parteien als Stichwortgeber hervorgetan. Da waren die „Warnungen“ des ehemaligen CSU-Vorsitzenden Stoiber vor einer „durchmischten und durchrassten Gesellschaft auf deutschem Boden“ zu vernehmen. Erinnert sei an die Pogromrufe des früheren Berliner CDU-Landesvorsitzenden Landowski, der von „Müll“, „Ratten“ und „Gesindel“ sprach, „das beseitigt werden“ müsse. Das seinerzeitige CDU-Präsidiumsmitglied Rüttgers empfahl „Kinder statt Inder“ an die Computer zu setzen. Und Herr Huber, ein anderer ehemaliger CSU-Vorsitzender, wußte: „Multikulti ist die Brutstätte der Kriminalität.“ Auch Ex-Bundeskanzler Schröder fehlte nicht in dem Reigen, als er ausrief: „Das Boot ist voll!“
Inzwischen sind von „hoher Warte“ auch ganz andere Töne zu vernehmen. Die angebliche Bildungsrepublik Deutschland klagt über „ernsten Fachkräftemangel“. Kanzlerin Merkel erklärt die BRD daraufhin zum „Einwanderungsland“. Es gehe um eine „neue Willkommenskultur“, um eine „neue Qualität der Zuwanderung“. Arbeitsministerin von der Leyen sprach gar von einem „Glücksfall“. Die genannten Vokabeln gelten allerdings keineswegs für Ausländer, die in der BRD ihr Heil vor Armut und Verfolgung suchen.
Um was geht es? Der derzeitige Export-Vizeweltmeister braucht dringend qualifiziertes „Humankapital“. Gerhard Schröder und Peer Steinbrück schufen, als sie am Ruder waren, im Interesse der deutschen Konzerne mit der „Agenda 2010“ entsprechende Voraussetzungen zu dessen Beschaffung. „Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt“, brüstete sich der heutige Multimillionär Schröder damals. Die Lohnstückkosten wurden drastisch gesenkt, die südeuropäischen EU-„Partner“ gnadenlos niederkonkurriert. Der BRD-Leistungsbilanzüberschuß erreichte in einem Jahrzehnt eine Billion Euro.
Merkel nutzte diesen Vorteil bei ihrem Krisenmanagement und setzte die Strategie des deutschen Kapitals paßgerecht um. Sie verlangte, „daß die Wirtschaftspolitik im Euro-Raum deutschen Prinzipien folgen“ solle. Den Südeuropäern diktierte man brutale Kürzungsprogramme. Immer mehr Griechen, Portugiesen und Spanier wurden so an den Rand der Gesellschaft gedrängt und in Armut hinabgestoßen. Der einheitliche Euro-Binnenmarkt erweist sich als idealer Freiraum für deutsche Kapitalverwertung und „Humankapital“-Gewinnung. Eine neue Kategorie von Menschen entstand – die „Krisenflüchtlinge“. Deutsche Konzernbosse sind darüber hocherfreut. „Es ist eine Elite, die nun einwandert und das Bild verändert“, triumphierte der „Spiegel“. „Nun sind es die Jungen, die Gutausgebildeten, die Mutigen, die nach Deutschland kommen, im Durchschnitt sind sie 32 Jahre alt.“
In Berlin-Hellersdorf ging es indes nicht um Abwerbung von mit Steuergeldern anderer Länder ausgebildeten Fachkräften, sondern um Menschen, die „lediglich“ dem Krieg zu entrinnen gesucht hatten. Derzeit befinden sich weltweit über 45 Millionen auf der Flucht – Wirtschaftsflüchtlinge, Kriegsflüchtlinge, Umweltflüchtlinge, politisch, ethnisch oder religiös Verfolgte.
Die Herkunftsländer sind derzeit vor allem Afghanistan, Irak und Syrien – drei Staaten, deren Völker zu Opfern von Interventionen der USA und der NATO geworden sind. In Afghanistan ist die BRD mit ihrer Bundeswehr seit einem Jahrzehnt „im Einsatz“. Sie hat keinen geringen Anteil daran, daß über zwei Millionen Afghanen ihre Heimat verlassen mußten.
Die Integration der Fliehenden gehört nicht zu den Zielen der lammfrommen Bundesregierung. Sie setzt auf Ausgrenzung, isoliert Asylsuchende in Lagern und kennt fast nur einen „Lösungsweg“: die Abschiebung. Es gehe darum, den Aufenthalt derer, „die nur aus mißbräuchlichen oder asylfremden Gründen“ zu uns kommen, schnell zu beenden, verkündete Merkels Innenminister Friedrich.
Solche Erklärungen leiten Wasser auf die Mühlen der Nazis. So zogen sie vor jene seit Jahren leerstehende Hellersdorfer Schule, die 200 syrischen Kriegsflüchtlingen eine gewisse Sicherheit geben sollte. Die Pogromstimmung von Rostock-Lichtenhagen war plötzlich wieder da.
Doch auch das muß nachdrücklich unterstrichen werden: Den Kohorten rechtsradikaler Stimmungsmacher stellten sich bald nicht wenige mutige und internationalistisch gesinnte Menschen entgegen, von denen etliche ihre Kindheit zu einer Zeit erlebten, in der die Schule noch dazu diente, ganze Generationen Heranwachsender im Sinne der Völkerfreundschaft zu erziehen.
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