Der VS erhielt den „Big Brother Award“ 2016
Negativ-Preis für den „Verfassungsschutz“
Unter Federführung des Vereins Digitalcourage e.V. haben Bürgerrechtler und Datenschützer am 22. April in Bielefeld die diesjährigen „Big Brother Awards“ verliehen. Der Name des Preises ist George Orwells Roman „1984“ entnommen, in der der Autor Ende der 40er Jahre seine Vision einer totalen Überwachungsgesellschaft entwarf. Die Vergabe des besagten Negativpreises fand bereits zum 16. Mal statt. Rechtsanwalt Dr. Rolf Gössner hielt eine vielbeachtete Laudatio, aus der hier Auszüge veröffentlicht werden.
Der Big Brother Award 2016 in der Kategorie Lifetime, also für das Lebenswerk, geht an den Inlandsgeheimdienst „Verfassungsschutz“ (VS) genauer: an das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), vertreten durch dessen Präsidenten Dr. Hans-Georg Maaßen, sowie an „Verfassungsschutzbehörden“ einzelner Bundesländer und deren Amtsleiter.
Frage: Wie oft ist der „Verfassungsschutz“ mit dem Negativpreis Big Brother Award in den 16 Jahren seines Bestehens wohl ausgezeichnet worden? Gefühlte zwei- bis dreimal? Falsch! Dieser Geheimdienst ist bisher erstaunlicherweise völlig ungeschoren davongekommen. Wir konnten es selbst kaum glauben, hat er doch schon mehr als genug verbrochen, vergurkt und vertuscht. Deshalb ist endlich ein Lifetime-Award fällig für eine 65jährige Geschichte, die vielfach von Skandalen und Machtmißbrauch, Datenschutz- und Bürgerrechtsverletzungen handelt – selbstverständlich immer im Namen von Sicherheit und Freiheit, Verfassung und Demokratie.
Seine möglichen positiven Leistungen und Erfolge müssen heute – schon aus Geheimhaltungsgründen und mangels Nachweisbarkeit – leider außen vor bleiben. Heute geht es jedoch um die alles überragenden auszeichnungswürdigen Negativ-Verdienste unserer Preisträger, die sich vorab kurz so skizzieren lassen:
Der „Verfassungsschutz“ ist ein im kalten Krieg geprägter, antikommunistischer, skandalgeneigter und intransparenter Inlandsgeheimdienst, der seine eigenen altnazistischen Anfänge, die ihn so nachhaltig prägten, allzulange verdrängt hat, der – vielleicht auch gerade deshalb? – im Kampf gegen Neonazismus und Rassismus weitgehend versagt, der sich mit seinem unkontrollierbaren V-Leute-System heillos in kriminelle Machenschaften und Neonazi-Szenen verstrickt, der es seit Jahren sträflich unterläßt, Bevölkerung, Firmen und Bundesregierung vor Spionage-Attacken etwa des US-Geheimdienstes NSA zu schützen, obwohl er gesetzlich dazu verpflichtet ist, der ein skrupelloses Vertuschungssystem betreibt, wichtige Beweismittel und brisante Akten geschreddert hat und so jede parlamentarische Kontrolle torpediert, der insgesamt eine ellenlange Skandalgeschichte aufzuweisen hat und immer wieder Bürger-, Persönlichkeits- und Datenschutzrechte verletzt, und der damit letztlich Verfassung, Demokratie und Rechtsstaat gefährdet und schädigt, anstatt sie auftragsgemäß zu schützen.
Schon angesichts dieser Übersicht drängt sich die Frage auf, welche Werbefirma wohl auf die glorreiche Idee kam, diese Institution ausgerechnet „Verfassungsschutz“ zu nennen. Was verbirgt sich in Wirklichkeit hinter diesem wohlklingenden Namen? Hinter dem irreführenden Tarnnamen „Verfassungsschutz“ steckt ein ideologisch geprägter Regierungsgeheimdienst mit geheimen Mitteln und Methoden wie V-Leuten, Verdeckten Ermittlern, Lockspitzeln, Lausch- und Spähangriffen und der Lizenz zur Infiltration, Täuschung und Desinformation – Mittel und Methoden, die gemeinhin als „anrüchig“ gelten und die sich rechtsstaatlicher Kontrolle weitgehend entziehen.
Zur Lebensgeschichte des „Verfassungsschutzes“
Wir kommen nicht umhin, bei einem Lifetime-Award auch die Lebensgeschichte des Preisträgers wenigstens kurz Revue passieren zu lassen: Gegründet 1950, aufgebaut und geprägt von etlichen Altnazis, maßgeblich beteiligt an exzessiver Kommunistenverfolgung in den 50er/60er Jahren, an einschüchternder Berufsverbote-Politik in den 70er/80er Jahren, indirekt auch an Waffenbeschaffungen für militante Gruppen. Weiterhin bietet seine Vita: geheime Ausforschungen politisch-sozialer Bewegungen, staats- und gesellschaftskritischer Gruppen und Personen, systematische Sammlung persönlicher Daten über politisch „verdächtige“ Gewerkschafter und Atomkraftgegner, über Abgeordnete und Journalisten, Anwälte und Bürgerrechtler – ohne große Rücksicht auf Meinungs-, Berufs- und Pressefreiheit. Erinnert sei auch an skandalöse Sicherheitsüberprüfungen, illegale Telefonabhöraktionen, die Manipulationen und Vertuschungen im Mordfall Schmücker bis hin zu jenem fingierten Bombenattentat, das als „Celler Loch“ in die Geschichte einging. Wir blicken auf eine Chronik ohne Ende, die 2003 mit der V-Mann-Affäre im Verbotsverfahren gegen die NPD nur einen vorläufigen Höhepunkt fand. Diese Affäre führte zum Scheitern des NPD-Verbots, weil zu viele V-Leute an führenden Stellen die Parteipolitik mitbestimmt und rassistisch geprägt hatten.
Heillos verstrickt in Neonazi-Szenen
Aber es kommt noch weit schlimmer:
Seit Beginn der 90er Jahre spannte der „Verfassungsschutz“ in Neonazi-Szenen ein regelrechtes Netzwerk aus bezahlten V-Leuten.
Der „Verfassungsschutz“ war in den 90er Jahren aktiv an Aufbau und Betrieb des rechtsextremen Thule-Netzes beteiligt. Thule diente der Vernetzung, Kommunikation und Koordination von Neonazis im ganzen Bundesgebiet. Einer der Hauptbetreiber war V-Mann des bayerischen „Verfassungsschutzes“, der eigens in die Neonazi-Szene eingeschleust wurde, monatlich 800 DM erhalten haben soll sowie Auslagen für Technik und Betrieb. Insgesamt sollen für diese Nazi-Aufbau- und Vernetzungsarbeit mehr als 150 000 DM an Steuergeldern geflossen sein.
In den letzten Jahren mußten wir erkennen, wie sich der „Verfassungsschutz“, insbesondere in Thüringen, mit seinem V-Leute-System heillos in mörderische Neonazi-Szenen verstrickt. Trotz – oder muß man sagen: wegen? – seiner zahlreichen V-Leute im Umfeld des NSU konnte dessen rassistische Mordserie über Jahre hinweg weder verhindert noch aufgedeckt werden.
Erschreckend ist, daß der „Verfassungsschutz“ seine kriminellen V-Leute oder in Verdacht geratenen V-Mann-Führer oft genug deckt und systematisch gegen polizeiliche Ermittlungen abschirmt, um sie vor Enttarnung zu schützen („Quellenschutz“) und weiter abschöpfen zu können – anstatt sie sofort abzuschalten. Das ist Strafvereitelung im Amt oder psychische Unterstützung und Beihilfe zu Straftaten – doch die VS-Verantwortlichen sind dafür nie zur Rechenschaft gezogen worden, selbst wenn Unbeteiligte schwer geschädigt wurden.
Die parlamentarischen Kontrollausschüsse hatten bei ihren Aufklärungsversuchen mit massiven Informationsblockaden und Urkundenunterdrückungen zu kämpfen – erinnert sei nur an die Aktenschredderaktion im VS-Bundesamt kurz nach Bekanntwerden der NSU-Mordserie oder im Berliner „Verfassungsschutz“. Die Kontrolleure blickten in unglaubliche Abgründe einer organisierten Verantwortungslosigkeit; entsprechend vernichtend fällt parteiübergreifend ihr Urteil aus.
Zusammenfassend kann man sagen: Der „Verfassungsschutz“ hat über seine bezahlten und auch kriminellen Spitzel Neonazi-Szenen mitfinanziert, rassistisch geprägt, nicht selten gegen polizeiliche Ermittlungen geschützt und gestärkt, anstatt sie zu schwächen. Auf diese Weise ist er selbst Teil des Neonazi-Problems geworden. Auf der Anklagebank des Oberlandesgerichts München müßten jedenfalls weit mehr Angeklagte sitzen als Zschäpe, Wohlleben & Co.: Es fehlen so manche involvierte V-Leute, deren V-Mann-Führer und alle für Versagen und Vertuschen Verantwortlichen aus Sicherheitsbehörden und -politik.
„Befangenheit“ des Laudators und das VS-Geheimhaltungs- und Vertuschungssystem
Spätestens an dieser Stelle sollte ich bekennen, daß ich als Laudator möglicherweise „befangen“ bin, was den Preisträger anbelangt. Warum? Weil er mich unter anderem just wegen meiner Kritik am „Verfassungsschutz“ vier Jahrzehnte lang ununterbrochen geheimdienstlich überwacht und ausgeforscht hat – wie einen Staats- und Verfassungsfeind, in allen meinen beruflichen Funktionen als Anwalt, Publizist und Bürgerrechtsaktivist, ohne Rücksicht auf Mandatsgeheimnis und Informantenschutz. Einer seiner abstrusen Vorwürfe lautet: Ich würde mit meiner öffentlichen Kritik an Sicherheitsbehörden und -politik die bundesdeutschen Sicherheitsorgane diffamieren und wolle den Staat wehrlos machen gegen seine Feinde. Gegen diese inquisitorische Gesinnungsschnüffelei habe ich geklagt wegen massiver Verletzung meiner Grundrechte auf Meinungs-, Presse- und Berufsfreiheit sowie auf informationelle Selbstbestimmung. Nach einem fünfjährigen Prozeß erklärte das Verwaltungsgericht Köln Anfang 2011 die rekordverdächtige Dauerüberwachung tatsächlich von Anfang an für grundrechtswidrig. Nach weiteren fast fünf Jahren hat Ende 2015 das Oberverwaltungsgericht NRW die Berufung der Bundesregierung gegen dieses Urteil zugelassen. Das heißt: Wir gehen nach fast 40 Jahren Überwachung und 10 Jahren Verfahrensdauer in die nächste Runde – Ausgang und Ende ungewiß.
Die heutige Laudatio dürfte das Zeug haben, mein Sündenregister beim Bundesamt für Verfassungsschutz wieder gehörig anzureichern. Dabei gibt es schon eine weit über 2000 Seiten umfassende Personenakte, die das Bundesamt in all den Jahrzehnten über mich angelegt hatte. Und die mußte im Prozeß vorgelegt werden – doch siehe da, die Akte ist dank einer umfangreichen Sperrerklärung des Bundesinnenministeriums aus Geheimhaltungsgründen zu 80 Prozent unlesbar: Entnommene und aufwendig von Hand geschwärzte Seiten dominieren die Akte – eine ziemlich eigenwillige Auffassung von Datenschutz. Und genau deshalb fühle ich mich als Laudator in Sachen „Verfassungsschutz“ doch nicht „befangen“, sondern eher auf fast schon intime Weise vertraut, weil ich gerade aus eigener Betroffenheit, Anschauung und aufgrund einschlägiger Recherchen weiß, wie dieser Geheimdienst tickt und arbeitet.
So jedenfalls sieht Rechtsstaat aus, wenn es um Geheimdienste geht: Das Geheimhaltungssystem des „Verfassungsschutzes“ zum Schutz seiner Informanten, V-Leute und Praktiken geht über alles – womöglich gar über die Verhütung und Aufklärung von Verbrechen, wie der Fall Andreas Temme alias „Klein Adolf“ zeigt: Der V-Mann-Führer des hessischen „Verfassungsschutzes“ war während eines NSU-Mordes in Kassel am Tatort, anschließend wurde der Verdächtige gegen Ermittlungen der Polizei rigoros abgeschirmt. Dieses Verdunkelungssystem frißt sich weit hinein in Justiz und Parlamente, die Geheimdienste kontrollieren sollen – und zumeist daran scheitern. Die reguläre parlamentarische Kontrolle erfolgt ihrerseits geheim – und damit wenig demokratisch. Und Gerichtsprozesse, in denen etwa V-Leute eine Rolle spielen, werden zu Geheimverfahren, in denen Akten manipuliert, Zeugen gesperrt werden oder nur mit beschränkten Aussagegenehmigungen auftreten dürfen.
Man muß es so klar und deutlich sagen: Gerade in seiner Ausprägung als Geheimdienst ist der „Verfassungsschutz“ Fremdkörper in der Demokratie. Warum? Weil er selbst demokratischen Grundprinzipien der Transparenz und Kontrollierbarkeit widerspricht und deshalb auch in einer Demokratie zu Verselbständigung und Machtmißbrauch neigt – letztlich zum Staat im Staate. Streng genommen also ein Fall für den „Verfassungsschutz“, der sich wegen Demokratiedefizits selbst beobachten müßte.
Gestärkt aus dem Desaster – statt ernsthafter Konsequenzen
Statt nun ernsthafte gesetzgeberische und strukturelle Konsequenzen aus dieser skandalreichen Karriere und den vielfältigen Desastern zu ziehen, wird unser Negativpreisträger über Haushaltszuwendungen und Gesetzesnovellen auch noch weiter personell, finanziell und technologisch aufgerüstet, immer stärker zentralisiert und mit der Polizei vernetzt. Er darf sich inzwischen auch ganz legal krimineller V-Leute bedienen; und er soll künftig „soziale“ Netzwerke wie Facebook, Twitter & Co. anlaßlos ausforschen dürfen.
Das ist technisch möglich, weil der „Verfassungsschutz“ bereits 2013 vom US-Geheimdienst NSA eine Testversion der berüchtigten Spionagesoftware XKeyscore bekam, mit der die Überwachung und Auswertung des Telefon-, E-Mail- und Internetverkehrs in großem Stil möglich wird. Als Gegenleistung versprach er dem Großen Bruder NSA mit XKeyscore ausgewertete Meta- und Überwachungsdaten aus Deutschland – Daten, die zu Bewegungs-, Kontakt- und Verhaltensprofilen der betroffenen Nutzer verdichtet werden können. Dieser Handel Daten gegen Software wurde jenseits jeglicher parlamentarischer Kontrolle eingefädelt und abgewickelt.
Die geheimen Pläne zur systematischen Überwachung „sozialer“ Netzwerke, die nach und nach umgesetzt werden, enthüllte 2015 das Internet-Magazin „Netzpolitik.org“. Daraufhin überzog der Generalbundesanwalt die verantwortlichen Journalisten mit strafrechtlichen Ermittlungen wegen angeblichen „Landesverrats“ – veranlaßt durch eine Strafanzeige des BfV-Präsidenten Hans-Georg Maaßen, den es wurmte, daß seine prekären Aufrüstungsmaßnahmen nun der demokratischen Öffentlichkeit bekannt wurden. Nach heftigen öffentlichen Protesten gegen diesen Angriff auf die Pressefreiheit mußten die Ermittlungsverfahren wieder eingestellt werden, und Generalbundesanwalt Harald Range mußte seinen Hut nehmen. Die Anstiftung durch Herrn Maaßen blieb folgenlos.
Sozialverträgliche Auflösung im Interesse von Demokratie und Bürgerrechten
Die skizzierte Aufrüstungsreform des „Verfassungsschutzes“ wird dem fundamentalen Problem von Geheimdiensten in einer Demokratie keineswegs gerecht. Denn mit den erweiterten technologischen Möglichkeiten des digitalen Zeitalters werden diese demokratiewidrigen Geheimsysteme befähigt, Gesellschaft und Demokratie auf immer aggressivere Weise zu durchdringen und zu unterminieren. Da keine Reform des „Verfassungsschutzes“ das Problem von Geheimdiensten in einer Demokratie lösen kann, solange sie die Geheimsubstanz und das unkontrollierbare V-Leute-Unwesen unangetastet läßt, besteht die einzig funktionierende demokratische Kontrolle von Geheimdiensten darin, diesen undurchsichtigen und übergriffigen Überwachungs- und Datenkraken das klandestine Handwerk zu legen.
Namhafte Bürgerrechtsorganisationen wie die Humanistische Union und die Internationale Liga für Menschenrechte fordern folgerichtig eine sozialverträgliche Auflösung des „Verfassungsschutzes“ als Geheimdienst – eine Forderung, der nicht etwa das Grundgesetz entgegensteht, denn danach muß der „Verfassungsschutz“ keineswegs als Geheimdienst ausgestaltet sein. Im Fall von Gewaltorientierung, konkreten Gefahren und Straftaten sind ohnehin Polizei und Justiz zuständig.
Zum Abschluß noch ein entlarvendes Zitat, das zeigt, mit welch zwielichtigen Verheißungen das Bundesamt für Verfassungsschutz auf Personalfang geht, um die Nachrüstungsreform zu bewältigen: Beim „Verfassungsschutz“ kann man all das machen, „was man schon immer machen wollte – aber man ist straflos“. So warb Ende vorigen Jahres der selbsternannte „Dienstleister für Demokratie“, Hans-Georg Maaßen, im MDR um neues Personal mit eher wenig Skrupeln.
Wir raten dem „Verfassungsschutz“ statt dessen dringend zum Einstieg in den unverdienten Ruhestand – im Interesse von Bürgerrechten, Demokratie und Verfassung. Einstweilen herzlichen Glückwunsch zum Big Brother Award 2016!
RA Dr. Rolf Gössner
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