Nicht alle können zu den Stärksten gehören
Nach der Lektüre von „Hand aufs Herz“ im August-RF möchte ich der Autorin sagen: Liebe Gisela, Dein Artikel hat mich wirklich aufgewühlt und angeregt. Herzlichen Dank für diesen wunderbaren Blick durch die Kinderhymne von Bertolt Brecht auf Gewesenes, zu Bewahrendes und vor allem auf Auseinandersetzungen unserer Zeit. Ich will einige Anmerkungen machen, die keine Vorwürfe, sondern ein Impuls zum gemeinsamen Weiterdenken sein sollen.
Du schreibst: „Wir brauchen Mut … Wir sind nicht verantwortlich für jeden, der aufgibt.“ Ich kann mich hier ebenfalls auf Brecht beziehen: „Die Schwachen kämpfen nicht, die Stärkeren kämpfen vielleicht eine Stunde lang, die noch stärker sind, kämpfen viele Jahre. Aber die Stärksten kämpfen ihr Leben lang. Diese sind unentbehrlich.“
Ja, es gehört sehr viel Mut dazu, unter heutigen Verhältnissen im Brechtschen Sinne zu den Stärksten gehören zu wollen. Ich möchte Dich fragen: Gibt es auch eine Anmut der Schwäche angesichts ständiger psychischer Belastung durch Nichtgebrauchtwerden, dauernde Demütigung und den entwürdigenden Zwang, Sozialtransferleistungen beantragen zu müssen? Oder auch beim Zwang abhängig Beschäftigter wie unter prekären Bedingungen Selbständiger, sich ständig selbst verleugnen und verbiegen zu müssen? Viele haben – scheint es – eine weiterführende Gesellschaftsidee aufgegeben, weil sie für deren Bewahrung zu schwach sind. Ihre armseligen Verhältnisse und die Erfordernisse der Reproduktion ihres täglichen Lebens fressen sie förmlich auf.
Du schreibst: „Wichtig ist, daß wir bei unseren einfachen Wahrheiten bleiben …“ Sind diese denn wirklich so einfach? Wäre es so, dann müßten sie doch sehr viele Menschen auch heute noch aufgreifen. Das aber ist offensichtlich nicht der Fall.
Selbst in der DDR, als sich die Gelegenheit bot, grundlegende Erkenntnisse über das Wesen der kapitalistischen Gesellschaftsformation zu erwerben, war das am Ende leider nicht so. Man denke nur an das Verhalten eines Teils der „Massen“ in der Zeit der „Wende“!
Man braucht politische, ökonomische, philosophische und andere Kenntnisse – also Bildung –, um Möglichkeiten zukunftsfähiger Gesellschaftsgestaltung erkennen zu können. Das BRD-Bildungssystem blockiert dies nun bereits seit nahezu einem Vierteljahrhundert auch im Osten. Man spürt schmerzhaft die Folgen der zunehmenden Preisgabe der Grundlagen des wissenschaftlichen Sozialismus in der gegenwärtigen Politik vieler Linker. Wie kann man dieses Wissen wieder vermitteln und im Kontext politische Handlungsfähigkeit durch Erkenntnisgewinn erreichen?
Da frage ich mich: Sind die von Dir betonten Wahrheiten wirklich so einfach? Im linken Spektrum gibt es viele echte oder vermeintliche Wahrheitsträger, die aber leider nicht übereinkommen wollen oder können.
Du schreibst über Deutschlands Politiker: „Viele … sind nicht einmal schlau, von Klugheit zu schweigen. Wenn sie uns etwas versprechen, glauben wir ihnen inzwischen nicht …“ Da fragt sich doch: Warum können sie sich dann so lange halten? Weshalb nimmt ihre Zahl sogar zu, auch in der Partei Die Linke? Warum werden sie in ihrer Mehrheit stets wiedergewählt? Und: Ändert das Sich-Abwenden oder die Wahlabstinenz derer, die an nichts mehr glauben, irgend etwas am Bestand des Parteienkartells?
Man kann das Ganze auch mit einem weiteren Brecht-Wort zusammenfassen: „Es ist der älteste Trick der Bourgeoisie, den Wähler frei seine Unfreiheit wählen zu lassen, indem man ihm das Wissen um seine Lage vorenthält. Das, was jemand braucht, um seinen Weg wählen zu können, ist Wissen. Was kommt dabei heraus, wenn man einen Mann, der weder Notenlesen noch Klavierspielen lernen durfte, vor ein Klavier stellt und ihm die freie Wahl über die Tasten überläßt?“
Du endest in Deiner Kolumne mit den Worten: „Tun auch wir, was möglich ist.“ Was aber ist für wen das jeweils Mögliche? Gegenwärtig scheinen einer linken Perspektive eher die Felle davonzuschwimmen. Das gilt auch für „Die Linke“ als politische Kraft, denn der Euphorie-Bonus der Vereinigung von PDS und WASG ist schon lange verbraucht. So müssen wir uns an Che Guevara halten: „Seien wir Realisten, versuchen wir das Unmögliche!
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