Wie deutsche Antifaschisten am 11. Mai 1945
die örtliche Macht übernahmen
Niemandsland Schwarzenberg –
die unbesetzte Zone
Über den Rundfunk wurde die bedingungslose Kapitulation der deutschen Faschisten bekanntgegeben. Doch es zeigten sich bei uns keine Soldaten der Siegermächte. Allein auf dem Territorium der Amtshauptmannschaft Schwarzenberg fehlte es an Besatzungstruppen. Die noch immer illegalen Zusammenkünfte antifaschistischer Kräfte, die sich zu Zeiten des auf ein Jahrtausend ausgelegten, aber nur 12 Jahre währenden 3. Reiches regelmäßig in den Wäldern um das Bauerndorf Bermsgrün getroffen hatten, beschäftigten sich nun mit Vorbereitungen zur raschen Auflösung und Amtsenthebung der örtlichen braunen Machtriegen. Die Männer und Frauen des Widerstandes waren sich darin einig, selbst Hand anzulegen, sollte von außen keine Befreiung erfolgen. Ihre Treffen waren allerdings nach wie vor nicht ungefährlich: In der Umgebung von Bermsgrün und Schwarzenberg hatten sich nun führungslose Angehörige der Hitlerwehrmacht, versprengte SS-Einheiten und Gruppen des zu Terrorzwecken formierten „Werwolfs“ festgesetzt. Raubzüge und Plünderungen in Ortschaften der Umgebung waren an der Tagesordnung.
Hinzu kam, daß die 9. Armee unter Generalfeldmarschall Schörner ihren Hauptgefechtsstand ausgerechnet in die Erzgebirgswälder zwischen Schwarzenberg und Sosa verlegt hatte. Schwarzenbergs Ratskeller wurde eilends in eine Wehrmachtskommandantur der Heeresgruppe Mitte umgewandelt. Der Nazi-Bürgermeister Rietzsch und Hitlers „Feldherr“ Schörner richteten sie ein. Das geschah allerdings nicht aus rein militärischen Erwägungen. Beide wollten vom Erzgebirge über die Tschechoslowakei in den Bereich der westalliierten Truppen gelangen. Den gut getarnten Treff der Antifaschisten am Davidfelsen kannte indes außer den Eingeweihten niemand. So waren sie während ihrer Zusammenkünfte verhältnismäßig sicher.
In den Abendstunden des 11. Mai 1945 betraten die Nazigegner gemeinsam das Schwarzenberger Rathaus, setzten sich dort fest und übernahmen so die lokale Macht. Treue Mitkämpfer aus der einheimischen Arbeiterschaft, welche die Genossen zu deren Schutz und Unterstützung begleiteten, wurden an Ort und Stelle bewaffnet. Der Nazibonze Rietzsch hatte nämlich im Rathaus Waffen gehortet, um den Volkssturm der letzten Stunde damit auszurüsten. Doch dieser Coup der Faschisten zum weiteren Machterhalt wurde durchkreuzt. Am 12. Mai jagte man Rietzsch aus dem Amt. Er wurde nicht verhaftet, sondern in Hausarrest entlassen.
Es war bereits tiefe Nacht, als sich der Antifaschistische Aktionsausschuß konstituierte. Willy Irmisch (KPD) wurde als kommissarischer 1. Bürgermeister der Stadt eingesetzt. Willy Krause (KPD) übertrug man die Funktion seines Stellvertreters, während Hermann Schlemmer (SPD) die Aufgabe erhielt, eine von faschistischen Elementen freie Schutzpolizei aufzubauen. Helene Papst, später verehelichte Scheffler (KPD) war für Ernährungsfragen zuständig, Paul Korb (KPD) wurde zum Leiter der städtischen Polizei berufen, und Georg Schieck (SPD) gehörte dem Aktionsausschuß als Mitglied für besondere Aufgaben an. Überdies gab es trotz der widrigen Umstände eine Reihe von Bürgern, die sich spontan zur Mitarbeit bereiterklärten. Kurt Löffler übernahm die Verantwortung dafür, den Betrieb des Hauptpostamtes aufrechtzuerhalten, Emil May kümmerte sich um das Elektrizitätswerk, Fritz Blechschmidt um die Aufrechterhaltung des Bahnbetriebs, und Herr Dr. Freudewald widmete sich Fragen der Krankenversorgung und Medikamentenbeschaffung.
Überdies galt es, die Bevölkerung des Schwarzenberger Raumes vor den Umtrieben versprengter Wehrmachtssoldaten und SS-Angehöriger zu schützen sowie Plünderungen zu verhindern. Dazu bedurfte es des schrittweisen Aufbaus einer Arbeitermiliz.
Um die Gefahrensituation zu verringern, galt es allenthalben, verstreute Waffen aufzufinden und einzusammeln. Dabei ging es nicht nur um die Sicherheit der Schwarzenberger Bürger. Auf dem Bahnhof der Stadt kamen ständig versprengte, desertierte und wegen Auflösung ihrer Einheiten ziellos umherirrende Soldaten, aber auch viele schutzsuchende Flüchtlinge an. Alle waren verwahrlost und total ausgehungert, Schwarzenberg aber eine abgeschnittene Amtshauptmannschaft – linksseits ihres Territoriums stand die U.S. Army, rechtsseits die Rote Armee. Dazwischen gab es keinerlei Versorgung. Die Regale waren leer, die Lager ebenfalls. Den Apotheken gingen die letzten Medikamente aus, das Krankenhaus meldete Versorgungsnotstand. Als eine schwierige, ja schier unlösbare Aufgabe gestaltete sich der Rücktransport in zahlreichen Lagern gefangengehaltener Zwangsarbeiter aus zuvor okupierten westeuropäischen Ländern. Als besonders problematisch erwies sich auch die Heimkehr polnischer, tschechischer und vor allem sowjetischer Kriegsgefangener und Zwangsdeportierter, da sie ausnahmslos hungernd und körperlich heruntergekommen aus den Lagern der Betriebe strömten. Für diese hatten sie ohne jegliche Bezahlung und nur mit einem billigen Fraß abgespeist, tagein, tagaus zur Sicherung des faschistischen Nachschubs mit kriegswichtigem Material schuften müssen.
Jede helfende Hand war vonnöten, und so wurden auch Mitläufer der Nazis, die sich persönlich nichts hatten zuschulden kommen lassen, in die Arbeit einbezogen. Entsprechend ihren Kenntnissen betraute man sie mit neuen Aufgaben. Hierzu berief der 1. Bürgermeister, der Kommunist Willy Irmisch, einen ihn beratenden Ausschuß, dem 12 Schwarzenberger Bürger angehörten. Das Gremium sollte über den weiteren Einsatz nomineller NSDAP-Mitglieder entscheiden.
Der Aktionsausschuß gelangte zu dem Ergebnis, notwendigenfalls im unbesetzten Gebiet ein Schwarzenberger Notgeld einzuführen. Auch die Emission von Briefmarken wurde ins Auge gefaßt. Überdies war man sich völlig darin einig, ohne Zeitverlust mit der nächstgelegenen sowjetischen Militärkommandantur in Annaberg-Buchholz Verbindung aufzunehmen. Doch noch sechs Wochen zähester Arbeit sollten vergehen, bis Ende Juni die Rote Armee in Schwarzenberg einrückte, eine Kommandantur errichtete und so den 42 Tagen ohne jegliche Besatzung ein Ende bereitete. Zu dieser Zeit hatte der Antifaschistische Aktionsausschuß die Säuberung des Staatsapparats einschließlich des Bildungssektors bereits abgeschlossen. Doch noch immer war die Versorgungslage katastrophal. Für einen ganzen Monat hatte man die Ausgabe von 100 g Fleisch (!) aufrufen können. Kaffee-Ersatz und Marmelade kamen nur soweit vorhanden zur Verteilung, statt Kartoffeln erhielten die Familien Trockenrübenschnitzel.
Als der Aktionsausschuß die Geschäfte an die sowjetische Militärkommandantur übergab, hatte er gewaltige, ja oftmals nicht zu bewältigende und täglich neu auf ihn zukommende Aufgaben zum Wohle der Bürger der Stadt und des Umlands besonnen zu lösen vermocht. Leben und Gesundheit hintenan stellend, vollbrachte eine Handvoll Genossen wahrlich Übermenschliches. Diese Leistung von Kommunisten und Sozialdemokraten verdient höchste Anerkennung.
Am 8. Mai 2012, der 67. Wiederkehr des Tages der Befreiung, war ich bei der Kranzniederlegung am sowjetischen Ehrenmal damit beauftragt, Worte des Gedenkens zu sprechen. Das nahm ich zum Anlaß für den Vorschlag, in der Nähe einen Ehrenhain anzulegen. Dort sollte ein Gedenkstein mit den Namen der Mitglieder des Aktionsausschusses an die Taten dieser beherzten Antifaschisten erinnern. Meine Idee war von der Basisgruppe der Partei Die Linke einstimmig befürwortet worden. Ein Konzept dazu wurde mit Preiskalkulation der Oberbürgermeisterin übergeben. Die unterbreitete den Vorschlag, falls der Stadtrat einen entsprechenden Beschluß fassen sollte, die Ehrung am 70. Jahrestag der Befreiung vorzunehmen. Dem stimmten wir zu. Anfang 2015 verkündete dann dieselbe Lokalpolitikerin plötzlich den Gedanken, auf einen Stein zu verzichten und statt dessen eine Broschüre herauszubringen. Aus dieser wurde am Ende ein Flyer. Übrigens schäme ich mich für dieses Papier, das einer Würdigung der Leistungen des Antifaschistischen Ausschusses und aller damaligen Akteure keinesfalls gerecht wird.
P. S.: Noch eine unerläßliche Schlußbemerkung: Die verbreitete Vorstellung, 1945 habe es sich um eine Freie Republik Schwarzenberg gehandelt, beruht auf schriftstellerischer Eingebung. Stefan Heym erfand sie mit dem Recht auf dichterische Freiheit für seinen unsere Stadt in den Mittelpunkt stellenden Roman. Er machte sie damit zwar in aller Welt bekannt und lieferte der Werbeindustrie eine wirksame Vorlage, trug damit aber den Tatsachen nicht Rechnung.
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