Ein großartiges Buch des
PTB-Vorsitzenden Peter Mertens
Noch können sie es wagen
Peter Mertens, Jahrgang 1969 und seit 2008 Vorsitzender der Partei der Arbeit Belgiens (PTB), hat vor zwei Jahren ein aufsehenerregendes Buch veröffentlicht. In Belgien, den Niederlanden und Frankreich wurde es sofort zum Bestseller. Nun liegt es in einer deutschsprachigen Ausgabe vor.
Der Autor verfügt über die Gabe, den Leser bei seinen unmittelbaren Erfahrungen abzuholen, ihm eine Menge sachlicher Informationen zu vermitteln und diese auf spannende Weise zu marxistischen Aussagen zu verdichten.
Er beginnt mit seinem eigenen Land, wo die Reichen faktisch keine Steuern zahlen und ausgerechnet in der Krise viel schneller noch reicher werden als je zuvor. Und das ist keineswegs nur in Belgien der Fall: „0,5 Prozent der erwachsenen Weltbevölkerung besitzen 38,5 Prozent vom gesamten Reichtum des Planeten. In anderthalb Jahren sahen die Millionäre ihr Vermögen um 29 Prozent ansteigen. Gegner der (durch die PTB vorgeschlagenen – G. D.) Millionärssteuer sagen, daß Otto Normalverbraucher die Krise bezahlen soll.“
Dann geht es um „Europa im Morast“. „Niedriglohnland Deutschland“ wird zum Thema. „Testgelände für Lohn- und Sozialdumping“ in ganz Europa waren „die Ossis“. Denn: „Im Osten war alles erlaubt, und was nicht funktionierte, wurde einfach den Strukturen der Vergangenheit angelastet.“ Die Offensive sei von einer schrillen Medienkakophonie über faule und verwöhnte Ossis begleitet worden, „die es nicht gewohnt seien zu arbeiten“. Doch das war nur der Auftakt: „Dieselben Disharmonien klingen nun zwanzig Jahre später wieder durchs Land, diesmal mit Texten gegen die faulen und korrupten Griechen.“
Der „Exportweltmeister“ konnte die Parole ausgeben: „Lebe auf Kosten des Nachbarn und bringe ihn an den Bettelstab, gleichgültig, ob er ein ferner oder ein naher Nachbar ist.“ Die bitteren Konsequenzen sind u. a. in Griechenland, Lettland, Irland und Portugal in Augenschein zu nehmen.
Der Lobby-Dachverband des Kapitals, „BusinessEurope“, hat Verheerendes angerichtet. Das Arsenal zur Zementierung der Ausbeutungsverhältnisse ist weiterentwickelt worden.
Mertens räumt mit der Behauptung auf, das „Zeitalter der Ideologien“ liege hinter uns. Die „Vordenker“ des konterrevolutionären Feldzugs werden enttarnt. Breiten Raum nimmt die Auseinandersetzung mit systematisch geschürtem Nationalismus und Rassismus ein. Beeindruckend ist, wie der flämische Autor dieses Thema vor allem anhand der wechselvollen Geschichte seiner eigenen Heimat bearbeitet.
Die Alternative ist der entschlossene Kampf um ein sozialistisches Europa. Nur so kann das ein Kontinent werden, „auf dem öffentliche Dienste und Unternehmen im Takt der Bedürfnisse der Bevölkerung funktionieren und wo jeder Wucher, alle parasitären Lasten und sämtliche spekulativen Aktivitäten strukturell angegriffen werden können“. Und Mertens betont: „Nein, ich bin nicht im geringsten gegen Europa, und auch nicht gegen Afrika oder Asien. … Meine Farbe ist diejenige der Völker, und die ist rot!“
Marxisten stehen stets vor der Herausforderung, bei der Analyse der konkreten Lage die revolutionäre Grundposition mit nüchternem Realismus zu vereinen. Nur so gewährleisten sie, nicht dem Trugschluß zu unterliegen, mit ständigen Aufrufen zu revolutionärem Sturm sei schon alles getan. Nur so sind sie aber auch davor gefeit, in opportunistische Fallen zu tappen und der sozialreformistischen Illusion aufzusitzen, der absolut notwendige Kampf um Reformen werde ohne revolutionäre Umbrüche die Menschheit schließlich zum demokratischen Sozialismus emporheben. An herausragender Stelle steht deshalb die Losung von Dolores Ibarruri: „Lieber aufrecht sterben als kniend leben.“
Wie ist die Lage? „Heute nun trifft die ‚Superklasse der wenigen’ katastrophale Entscheidungen. Sie enteignet dem Menschen die Arbeitskraft und Partizipation, sie enteignet der Natur ihre natürliche Befähigung zur Regeneration. Sie enteignet und enteignet, bis hinein in die Hölle. Was können wir dagegen unternehmen? … Die Demokratie von morgen beginnt mit der Enteignung der Enteignenden.“
Es gilt, sich der Tatsache zu stellen, daß es der Gegner nach der Niederlage des Sozialismus in Europa vermocht hat, tiefe Breschen in das Klassenbewußtsein der Arbeiter zu schlagen. Manchem ist es heute peinlich, „nur ein Arbeiter“ zu sein. Und „Proletarier“ ist im Alltag sogar zum Schimpfwort verkommen.
Was ist zu tun? „Wer wieder eine eigene Moral aufbauen soll und muß, das ist die breite Arbeiterklasse – Menschen, die alltäglich für Lohn zur Arbeit gehen, aber auch Menschen, die durch die Krisen ihren Arbeitsplatz verloren haben oder die vor Hunger und Elend in ihren Ländern fliehen, auf der Suche nach einer Chance zu leben –, eine neue eigene Moral, basierend auf den Werten wie gegenseitige Hilfe, Solidarität, Zusammenarbeit, Kollektivismus, Respekt für den Mitmenschen, Einheit von Wort und Tat, Achtung vor der Arbeit, Rationalismus, Selbstvertrauen und Selbstkontrolle, Bereitschaft zu Initiativen und Internationalismus.“
Peter Mertens tritt dem Mythos entgegen, aufgehäuftes Geld „arbeite“: „Denn letztendlich rührt aller Reichtum aus der Produktion. Geld kreiert kein Geld, aber Arbeit kreiert Wohlstand.“ Er verweist auf einen wichtigen Ansatz zur Lösung des Rätsels, warum die Reichen in der gegenwärtigen Krise so phantastisch zulegen können. Die „Geldschwemme“, zeugt „fiktives Kapital“.
Ein gewaltiger Teil des umlaufenden „kapitalisierten“ Geldes hat mit realer Wertschöpfung nichts zu tun. Dubiose „Wertpapiere“ und Aktien, die Spekulationsanlagen sind, „arbeiten“ im luftleeren Raum.
Besonders deutlich wird das bei Staatsverschuldungspapieren. „Seit dreißig Jahren geht es von Seifenblase zu Seifenblase, um eine Krise wegen Überkapazitäten hinauszuschieben. Diese Zeit war ein Fest des fortwährenden Überkonsums der reichsten zehn Prozent der Bevölkerung. Ein Fest, bei dem der Kuchen schon gegessen wurde, bevor er überhaupt gebacken war. … Inzwischen sind die Festbesucher bei Staatsobligationen angekommen, der allerletzten Seifenblase im völlig verschlammten System.“
Die Jongleure haben so die Krise der Realwirtschaft immer wieder „hinausschieben“ können, „doch dauerhaft kann eine Gesellschaft nicht auf Pump leben“. Schulden haben nun einmal die unangenehme Eigenschaft, daß sie „bedient“ und schließlich getilgt werden müssen. Die Mächtigen des Kapitals arbeiten fieberhaft daran, diese gewaltige Last zu „sozialisieren“, das heißt, sie auf die Schultern des „Normalbürgers“ abzuwälzen.
Die Felder der vor uns liegenden Schlachten sind schon abgesteckt.
Peter Mertens:
Wie können sie es wagen?
Der Euro, die Krise und der große Raubzug
Verlag André Thiele, Mainz 2013, 416 S.
ISBN 978-3-95518-003-4
19,90 €
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