Ketzerisches Lied eines römisch-katholischen Moraltheologen
„O Heiland, reiß die Himmel auf!“
O Heiland, reiß die Himmel auf,
herab, herab, vom Himmel lauf!
Reiß ab vom Himmel Tor und Tür,
reiß ab, wo Schloß und Riegel für!
O Gott, ein’ Tau vom Himmel gieß,
im Tau herab, o Heiland, fließ.
Ihr Wolken, brecht und regnet aus
den König über Jakobs Haus.
O Erd’, schlag aus, schlag aus, o Erd’,
daß Berg und Tal grün alles werd’!
O Erd’, herfür dies Blümlein bring,
o Heiland, aus der Erden spring!
Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt,
darauf sie all’ ihr’ Hoffnung stellt?
O komm, ach komm vom höchsten Saal,
komm tröst uns hier im Jammertal!
O klare Sonn’, du schöner Stern,
dich wollten wir anschauen gern.
O Sonn’, geh auf, ohn’ deinen Schein
in Finsternis wir alle sein.
Hier leiden wir die größte Not,
vor Augen steht der ewig’ Tod;
ach komm, führ uns mit starker Hand
vom Elend zu dem Vaterland!
Wieso ist dieses Lied ketzerisch? Es verherrlicht doch den Heiland Jesus, das Heil der Welt?
Der Dichter nimmt den Kampf mit der römischen Kirche auf, die in ihrer scholastischen Weltsicht von der Dreiteilung des Kosmos ausgeht. Danach ist die Welt eine Art „Torte“ und besteht aus den drei Schichten: der Unterwelt („Hölle“), der Menschenwelt („Erde“) und der Oberwelt („Himmel“). Das Leben der Bewohner der Menschenwelt wird von der staatlichen Gewalt über die Leiber und von der kirchlichen Gewalt über die Seelen gelenkt. Die staatliche Obrigkeit sorgt für die Sicherheit der äußeren Ordnung, für den Schutz von Handwerk und Gewerbe, die kirchliche für die Einhaltung der religiösen Regeln, von Sitte und Brauch sowie für die Reinigung der Seelen. Die allseits lauernden Gefahren, die aus der Unterwelt (Anschläge des „Teufels“) in die Menschenwelt dringen, verführen die Gläubigen zur Sünde in ihren verschiedenen Formen. Davon aber können sie gereinigt werden, wenn sie das Amt der Beichte einhalten. Die beamteten, von der Oberwelt („Gott, Christus, Heiliger Geist, Engel, Gottesmutter, Heilige“) gesegneten Priester haben die Kraft, den Menschen ihre Sünden zu vergeben und sie auf den Weg bis ans Lebensende immer wieder frei zu machen, so daß sie nach ihrem Tod ebenfalls in die Oberwelt gelangen können, um sich mit Christus, den Engeln und Erzengeln dieser himmlischen Gemeinschaft erfreuen zu können. Der erste Apostel Petrus, der die Schlüssel zu Himmel und Hölle in der Hand trägt, bewacht die Tür zur Oberwelt und läßt nur jene ein, welche die kirchlichen Aufgaben und Pflichten regelmäßig befolgten und der Kirche gehorsam waren.
Leider gibt es aber immer wieder Menschen, die das Amt der Kirche mißachten, sich schwerer Sünden schuldig machen und nicht die Vergebung erlangen. Wenn das bis zu ihrem Lebensende so bleibt, dann verfallen sie der Verdammnis des ewigen Todes: Sie werden von den Toren der Hölle verschlungen und sind den Qualen der Unterwelt ausgeliefert. Viele solcher Menschen mußten von der Kirche bereits zu Lebzeiten dem Höllenfeuer ausgeliefert werden – man konnte unmöglich bis zu ihrem Tode warten: die Feuer, in denen Ketzer, Ungläubige, Hexen und Zauberer verbrannt werden. Das war auch als Abschreckung für die unbußfertigen Sünder nötig, denn bei denen bildeten sich nicht nur eigene Vorstellungen von dem, was freie Menschen dürfen sollen, sondern auch ketzerische Gedanken über die Menschenfeindlichkeit dieser Welt mit den drei Tortenschichten.
In diese gnadenlose Dreiteilung des Kosmos hinein, über deren ewige Ordnung die geistlichen Hüter stets mißtrauisch wachten, läßt Friedrich Spee den befreienden Atem seiner Adventsverse hineinströmen. „O Heiland, reiß die Himmel auf!“, die diese Kirche und ihr oberster Petrus mit seinem Schlüssel in der Hand bewacht. Schlimmer noch: Die Himmelstür, über deren Öffnung allein der erste Papst und sein Stellvertreter zu entscheiden haben, soll ganz und gar eingestoßen werden: „Reiß ab vom Himmel Tor und Tür, reiß ab, wo Schloß und Riegel für!“ Wenn das endlich geschieht, wird das menschenfreundliche Heil Gottes wie Tau herabfließen und sich ausregnen über der Menschenwelt, die nach ihm dürstet. Und wenn auch das geschehen ist, dann kann es in der Menschenwelt endlich grünen: „O Erd’ schlag aus, schlag aus, o Erd’, daß Berg und Tal grün alles werd’.“
Die Menschenwelt soll allen grünen – nicht nur Reichen, die sich die Gnade Gottes mit hundertfältigem Ablaß erkaufen können, sondern auch die armen Ackerknechte, die im Schweiße ihres Angesichts den Boden bestellen, dessen Früchte sie abliefern müssen, sollen etwas spüren von dem Heil, das ihnen gilt: „O Erd’, herfür dies Blümlein bring, o Heiland, aus der Erden spring.“ Weil die bewohnte Erde für die Mehrzahl der Menschen eine Welt des Elends und der Würdelosigkeit geworden ist, sollen die Menschen hoffen dürfen auf den, der endlich den Himmel verläßt: „O komm, ach komm vom höchsten Saal, komm tröst uns hier im Jammertal.“
Dieses Jammertal ist wahrlich ein Ort der menschlichen, aber auch der geistlichen Finsternis. Wenn doch endlich die Sonne über diesem Land aufgehen würde! Nicht die Sonne, die ihnen im Alltag aufs Haupt brennt und die Arbeit zur Qual macht, sondern die Sonne des Heils, die ihnen im Heiland verkündet wird: „O Sonn’, geh auf, ohn’ deinen Schein in Finsternis wir alle sein.“ Gemeint ist nicht die wohltuende Dunkelheit der Nacht, in der man endlich erquickenden Schlaf findet nach der Schinderei des Tages. Gemeint ist vielmehr die größte Not: die Drohung der Kirche mit den Höllenstrafen, mit der ewigen Verdammnis, in die der Mensch fällt, dem die Kirche seine Sünde nicht vergeben will, der ewige Tod. Wenn man nach dem Tod nicht in den Himmel kommen kann – wohin dann? Friedrich Spee gibt mit dem Lied den Verzweifelten seine Stimme:
„Hier leiden wir die größte Not, vor Augen steht der ewig’ Tod; ach komm, führ uns mit starker Hand vom Elend zu dem Vaterland.“
Weil sich solche Hoffnungen auch nach Jahrhunderten nicht erfüllen wollten, aber die Drohung mit dem verschlossenen Himmel nicht mehr durchschlagend wirkte, konnte ein Heinrich Heine 200 Jahre später sein eigenes Befreiungslied so dichten:
„Ein neues Lied, ein besseres Lied,
O Freunde, will ich euch dichten!
Wir wollen hier auf Erden schon
Das Himmelreich errichten.
…
Ja, Zuckererbsen für jedermann,
Sobald die Schoten platzen!
Den Himmel überlassen wir
Den Engeln und den Spatzen.“
Friedrich von Spee (1591–1635) war römisch-katholischer Theologe und Ordenspriester der Jesuiten. Er erhielt eine Professur für Moraltheologie, die ihm nach einem Jahr bereits wieder entzogen wurde. Die Kritik am Hexenwahn seiner Kirche konnte er unter dem Titel „Cautio criminalis“ nur anonym veröffentlichen. Zeitweise lief er Gefahr, aus seinem Orden ausgeschlossen zu werden. Als Beichtvater begleitete er tatsächliche und angebliche Übeltäter zur Hinrichtung. Als einer der ersten erkannte er, daß unter Folter abgelegte Schuldeingeständnisse keine Wahrheit enthalten müssen.
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