RotFuchs 203 – Dezember 2014

Obamas Super-Bluff

Klaus Steiniger

Mit dem Aufnahmevermögen eines Erstklässlers erfuhr ich am 1. September 1939 aus dem „Volksempfänger“ der Familie eines Berliner Schulkameraden, warum „Deutschland“ nichts weiter übriggeblieben sei, als Polen „abzustrafen“. Der „Überfall auf den Reichssender“ im oberschlesischen Gleiwitz, bei dem, wie sich später herausstellte, von der SS in polnische Uniformen gesteckte KZ-Häftlinge verheizt worden waren, habe dem „Führer“ keine andere Wahl als das Zurückschießen gelassen, hieß es in Sondermeldungen.

Der den Grund zur Auslösung des 2. Weltkriegs vorspiegelnden Erfindung der Goebbels-Propaganda sind inzwischen nicht wenige ähnlich geartete „Rechtfertigungen“ anderer imperialistischer Massaker gefolgt.

Vor 50 Jahren – im Spätsommer 1964 – blickte ich an der Küste Nordvietnams auf die fast noch rauchenden Trümmer jener erst Tage zuvor durch „Vergeltungsschläge“ der U.S. Air Force heimgesuchten Ortschaften. Auf Befehl Präsident Lyndon B. Johnsons waren als Revanche für einen unterstellten „Zwischenfall im Golf von Tonking“ erste Angriffsziele in der damaligen DRV ausgewählt worden. „Kriegsschiffe“ Hanois hätten die im Südchinesischen Meer operierenden U.S.-Zerstörer „Maddox“ und „Turner Joy“ aus „freien Stücken angegriffen“, behauptete Washington. In Wirklichkeit ging es um die Ausweitung des Vietnamkrieges vom bereits heiß umkämpften Süden auf den sozialistischen Norden des Landes.

Doch auch die zweite „Gleiwitz-Lüge“ – die erste war 1946 im Nürnberger Prozeß gegen die hitlerfaschistischen Hauptkriegsverbrecher geahndet worden – platzte unbarmherzig. Der „Maddox“-Kapitän erklärte bei einer Anhörung im US-Kongreß, keines der beiden Schiffe sei zu irgendeiner Zeit bedroht gewesen.

Übrigens konnte ich mir selbst einen Eindruck davon verschaffen, welcher Art wohl die meisten „Kriegsschiffe“ Nordvietnams zu jener Zeit gewesen sein dürften: Die Marinesoldaten eines größeren Kutters mit aufmontiertem leichtem Flakgeschütz zeigten mir die in friedlichen Zeiten malerische Bucht von Ha Long, für deren Schutz sie Verantwortung trugen.

Was Lyndon B. Johnson recht war, konnte George W. Bush nur billig sein: Auch dieser wohl beschränkteste US-Präsident aller Zeiten wollte bei der Kolportage frei erfundener Vorwände zur Kriegsauslösung nicht ins Hintertreffen geraten: Bevor er 2003 Irak überfallen und damit eines der furchtbarsten Blutbäder der modernen Geschichte anrichten ließ, schickte er seinen Außenminister Colin Powell für eine Märchenstunde zum Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Der Herstellung chemischer Massenvernichtungswaffen durch Präsident Saddam Hussein, den die US-Besatzer nach seiner Entdeckung in einer Erdhöhle dem Henker übergaben, müsse im Menschheitsinteresse ein Riegel vorgeschoben werden, frömmelte Powell und präsentierte dabei angeblich authentische Fotos, die sich schon bald als Fälschungen erwiesen. Denn nach dem nur wenig später von Bush befohlenen Überfall auf Irak – ich hatte das Land zwischen Euphrat und Tigris gut zwei Jahrzehnte zuvor in seiner ganzen Widersprüchlichkeit kennengelernt – konnte nicht der geringste Anhaltspunkt für die Bagdad unterstellten Frevel ausfindig gemacht werden.

Doch der Super-Bluff beim Erfinden angeblich zwingender Kriegsgründe blieb Barack Obama vorbehalten: Er entdeckte nach der gelben und roten nun auch die islamistische Gefahr. Mit der ihren engsten nahöstlichen Verbündeten – Saudi-Arabien und Katar – durch die Obama-Administration übertragenen Finanzierung und Formierung der schwerbewaffneten Terrororganisation „Islamischer Staat in Irak und Syrien“ (ISIS) verfolgte Washington weitgesteckte strategische Ziele. Dabei ist die Behauptung des Weißen Hauses, die ultra-islamistischen Killerbanden seien buchstäblich aus dem Nichts aufgetaucht, eine unverfrorene Lüge. Tatsächlich führen vom Westen ausgerüstete und instruierte islamistische wie andere Terroristen – darunter vor allem auch die „Freie Syrische Armee“ – seit Jahren einen brutalen Vernichtungskrieg gegen die Zivilbevölkerung und die Streitkräfte der rechtmäßigen Regierung in Damaskus.

Während massive Bombardements der U.S. Air Force zur angeblichen Vernichtung der ISIS-Verbände auf dem Territorium Syriens – eines souveränen Mitgliedsstaates der Vereinten Nationen – nur vorgespiegelt sind, gelten die Luftschläge offensichtlich eher dessen Ölraffinerien als dem offiziell benannten Gegner. Sie haben – welch ein Wunder! – den Vormarsch der Terroristen bisher weder aufhalten wollen noch können.  So entpuppt sich das „Eingreifen“ der USA und reaktionärer arabischer Regimes als reine Farce.

ISIS wurde in der Regie des Pentagons und der NATO zu dem Zweck geschaffen, im nah- und mittelöstlichen Raum wesentliche Verschiebungen des Kräfteverhältnisses zugunsten des Imperialismus herbeizuführen, wobei perspektivisch vor allem auch Iran im Visier ist.

Die den Spuren der Erfinder des „Überfalls auf den Reichssender Gleiwitz“, des „Zwischenfalls im Golf vom Tonking“ und der „irakischen Massenvernichtungswaffen“ folgenden „Kämpfer“ gegen in der eigenen Retorte gezüchtete ISIS-Terroristen haben vor allem zweierlei im Auge: Es geht ihnen um den Sturz der antiimperialistischen Assad-Regierung Syriens und deren Ersetzung durch ein prowestliches Regime, das Schritte zur Blockade des einzigen russischen Mittelmeerstützpunktes an der syrischen Küste einleiten könnte. Zugleich will man die vor allem durch Öcalans in der BRD nach wie vor verbotene PKK und andere volksverbundene Kräfte repräsentierten Kurden der Türkei, Syriens und Iraks unterwandern, aufspalten, politisch enthaupten und in Ketten legen. Bei diesem untauglichen Versuch spielt Erdoğans islamistisch-faschistoide Regierung, die den Weisungen der NATO folgt, eine besonders üble Rolle.  Der vom Imperialismus gezeugte und protegierte „Islamische Staat“ – Obamas Super-Bluff – stellt die jüngste Variante gezielter Irreführung der demokratischen Weltöffentlichkeit durch jene dar, welche sich in Lammfelle hüllen und mit Wolfspranken zuschlagen.