RotFuchs 214 – November 2015

Aus einem Interview mit Folker Hellmeyer,
Chefanalyst der Bremer Landesbank

Ohne Moskau und Peking
läßt sich kein Weltproblem lösen!

RotFuchs-Redaktion

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Die EU-Staaten melden immer neue Verluste wegen der Sanktionen gegen Rußland. Welchen Schaden haben diese Ihrer Einschätzung nach bereits angerichtet?

Folker Hellmeyer: Der Schaden ist viel umfassender, als es die Statistik sagt. Der Blick auf den Rückgang der deutschen Exporte nach Rußland per 2014 um 18 % oder in den ersten beiden Monaten 2015 um 34 % erfaßt nur einen Primärausschnitt. Es gibt Sekundäreffekte.

Europäische Länder mit starkem Rußlandgeschäft wie Finnland und Österreich leiden konjunkturell massiv. Diese Länder ordern in der Folge auch weniger in Deutschland. Mehr noch erwägen europäische Großkonzerne zur Umgehung der Sanktionen, Produktionsstätten auf höchster Effizienzebene in Rußland zu erstellen. Damit verlieren wir hier potentiellen Kapitalstock, der die Grundlage unseres Wohlstands ist. Rußland gewinnt diesen Kapitalstock.

Zwei Staatsmänner, die
gemeinsame strategische Interessen vertreten: Wladimir Putin
und Xi Jinping

Es ist ja noch nicht abzusehen, daß die Sanktionen in absehbarer Zeit enden. Wie hoch kann die Rechnung gerade für die deutsche Exportwirtschaft werden?

Deutschland und die EU haben gegenüber Rußland ihre ökonomische Zuverlässigkeit zur Disposition gestellt. Das Vertrauensverhältnis ist durch sie zerrüttet. Um ein solches Vertrauen wieder aufzubauen, bedarf es mehrerer Jahre. Zwischen Unterschrift und Lieferung liegen bei den deutschen und europäischen Exporten im Anlagebau bis zu fünf Jahre. Siemens ist jetzt aus diesem Grunde bei einem Großprojekt rausgeflogen. Alstom hat den Auftrag für die Bahnstrecke Moskau–Peking verloren. Ergo ist das Schadenspotential nicht nur für Deutschland, sondern auch die EU viel massiver, als es die aktuellen Zahlen ausdrücken könnten.

Mehr noch plant die Achse Peking-Moskau im Rahmen der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) und der BRICS-Länder das größte Wachstumsprojekt in der modernen Geschichte. den Aufbau der Infrastruktur Eurasiens von Moskau bis Wladiwostok, bis Südchina und Indien. Inwieweit die Sanktionspolitik der EU und Deutschlands bei diesen Megaprojekten seitens der aufstrebenden Länder als Affront nicht nur gegen Rußland interpretiert werden wird, bleibt abzuwarten.

Die Finanzministerin der Ukraine Natalie Jaresko ist eine ehemalige Mitarbeiterin des US-Außenministeriums, die erst einen Tag vor ihrer Ernennung die ukrainische Staatsbürgerschaft erhalten hat. Ist die einstige Investmentbankerin einfach unschlagbar gut, oder steckt dahinter ein Masterplan?

Es ist viel über sie geschrieben worden. Daraus ergibt sich ein Bild, das den Begriff „unschlagbar gut“ nicht erlaubt. Die Tatsache, daß wichtige Posten in der ukraini­schen Administration von externen Kräften mit extremer Nähe zu den USA und deren Institutionen eingenommen wurden, unterstreicht den geopolitischen Charakter des Coups. Ergo ist der Begriff Masterplan mindestens vertretbar.

Eine bedeutende Figur der jüngeren deutschen Politik, nicht mehr in Amt und Würden, sagte in einem bilateralen Gespräch, daß US-Geopolitik auf dem Schachbrett der Ukraine mit dem Blut ukrainischer „Bauern“ über die Bande Moskau gegen das Machtzentrum Peking das Bild am besten umschreibt. Diese Sichtweise teile ich.

Fakt ist, daß sich die aufstrebenden Länder von der US-Hegemonie emanzipieren. Das wird deutlich an den Gründungen von Konkurrenzinstitutionen zur Weltbank und zum Internationalen Währungsfonds seitens der Achse der aufstrebenden Länder. Das mißfällt dem noch waltenden Hegemon. Die aktuellen internationalen Krisenherde von Afghanistan, Irak, Syrien, Libyen, Ägypten bis zur Ukraine sind Ausdruck dieser im Hintergrund klar erkennbaren Machtauseinandersetzung.

Welche Folgen haben die Sanktionen auf das deutsch-russische Verhältnis?

Die Enttäuschung Rußlands gerade gegenüber der deutschen Politik ist massiv. Es gibt in Moskau eine sehr realistische Einschätzung bezüglich der Fähigkeit, hier eine von den US-lnteressen unabhängige Politik im eigenen deutschen und europäischen Interesse zu formulieren und zu leben. Im Bereich der Unternehmen sieht das besser aus. Da werden die Gesprächsebenen genutzt. Man bereitet sich hier auf den Tag X nach den Sanktionen vor. Eine schnelle Wiederbelebung auf das Niveau vor der Krise ist jedoch unwahrscheinlich. Rußland ist ein Bär. Man baut sich jetzt neue Versor­gungswege auf. Die wird man nicht einfach nach der Sanktionspolitik aufgeben. Beliebigkeit mag im Westen „en vogue“ sein, in Moskau nicht.

Welche Folgen haben die Sanktionen für die Volkswirtschaften der EU?

Es entgeht uns Exportwachstum, es entgeht uns eine Friedensdividende. Wir refor­mieren die schwachen Länder der Euro-Zone und stellen unter schweren Opfern deren internationale Konkurrenzfähigkeit wieder her, um ihnen dann Märkte zu entziehen.

Weiß hier die linke Hand der deutschen und der EU-Politik, was die rechte Hand macht?

Die Verachtung, mit der die US-Regierung die Europäer behandelt, ist ja bemerkenswert – Stichworte NSA und „Fuck the EU!“ Haben die europäischen Politiker keine Selbstachtung, oder sind sie zu feige?

Wer ein echter Demokrat ist, wer seine Pflichten als Politiker für die res publica ernst nimmt, wer das eigene Selbstbestimmungsrecht nicht mit Füßen tritt, der muß aus diesen Äußerungen Konsequenzen ziehen. Wer das nicht tut, hat bezüglich des obigen Wertekanons Defizite. Ich bin hier der falsche Ansprechpartner. Sie müssen diese Fragen unseren politisch Verantwortlichen unterbreiten.

Wie geht der Konflikt weiter? Ist es denkbar, daß sich Amerikaner und Russen wieder zusammentun – etwa wegen IS oder Syrien – und die Europäer hinter den beiden Großmächten herdackeln und zahlen?

Für mich ist der Konflikt schon entschieden. Die Achse Moskau-Peking-BRICS gewinnt. Dort hat man vom Westen die Nase voll. 1990 hatten diese Länder einen Anteil von etwa 25 % an der Weltwirtschaftsleistung. Heute stehen sie für 56 % der Weltwirtschaftsleistung, für 85 % der Weltbevölkerung. Sie kontrollieren etwa 70 % der Weltdevisenreserven. Sie wachsen pro Jahr im Durchschnitt mit 4 % bis 5 %. Im Sektor der aufstrebenden Länder baut man ein eigenes Finanzsystem auf. Dort liegt die Zukunft.

Ohne Moskau und Peking läßt sich kein Problem in der Welt lösen. Das Fehlen der eigenen Agenda der EU und Deutschlands läßt uns wie einen Verlierer erscheinen.

„Deutsche Wirtschaftsnachrichten“ vom 24. Juli 2015