RotFuchs 234 – Juli 2017

Otto Nagel zum Gedenken

Werner Klemke

Otto Nagel (1891-1967)

Das Werk Otto Nagels (27. 9. 1891 bis 12. 7. 1967) habe ich erst verhältnismäßig spät bewußt kennengelernt. Es war in den ersten Jahren nach dem Kriege – ich glaube 1947 –, in einer alten zweistöckigen Weißenseer Vorort­schule in der Boelckestraße. Dort räumten wir einige Schulklassen aus und hängten die Bilder an die niedrigen Wände. Es war für mich ein ganz starker Eindruck. Es war Berlin – es war das Berlin meiner Kindheit. Der das alles gemalt hatte, war ein Berliner, der in denselben Arbei­tergegenden geboren und aufgewachsen war, die mir so vertraut waren. Er kannte die Men­schen, die ich kannte, er kannte die Häuser, in denen ich wohnte, und er kannte die Stimmungen unserer Straßen, wie auch ich sie erlebt hatte. Er war einer von uns.

Und alle, die hier wohnten, die Alten und die Kinder, die Arbeiter und Handwerker, verstanden, was er sagte. Sie mußten nicht in die Museen fahren, um seine Bilder zu sehen – er kam zu ihnen in diese Räume, wo ihre Kinder, dürftig genug, unterrichtet wurden.

Er war gewiß der bedeutendste proletarische Maler der deutschen Kunst des XX. Jahr­hunderts. Er war kein Bürger, und er war kein Kleinbürger, wie viele, die sich der arbeitenden Klasse und ihren Problemen mit ihrer Kunst zuwandten.

Er bediente sich, und das ist interessant, nicht primitiver Gestaltungsmittel, um seiner Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse Ausdruck zu geben. Seine Form war geschult an der vornehmen Malerei Liebermanns, seine Zeichnung an der Zeichenkunst Zilles. Seine Formensprache war still und verhalten, von einer beinahe unterkühlten Stille. Sein Grau war herb und poetisch zugleich, und mit der Zeichenkohle – von anderen schon beinahe vergessen –, wußte er umzugehen wie selten einer.

Das Schönste für mich aber sind seine Pastelle. Da war noch mal einer, der etwas von dieser subtilen, feinen alten Kunst verstand, die eine leichte Hand und zarte Nerven erfordert. Er wußte Bescheid über die farbigen Tonpapiere und wie man sie einzu­setzen hatte – er wußte Bescheid, wie man aus farbigem Staub und einem Stück Papier etwas unvergleichbar Kostbares macht.

So sind seine Berliner Straßen, seine Kohlenplätze, seine Obdachlosen unvergänglich geworden, weil sie ein großer Künstler erlebt und aufgezeichnet hat. Und so ist etwas, was als Berliner Kunst begann, große, allgemeingültige Kunst geworden. Und nur darauf kommt es ja wohl letzten Endes an.

Am Ende seines Lebens hat er ein erschütterndes Selbstbildnis gemalt: Der alte Maler. Ich kenne kein besseres in der deutschen Malerei der letzten Jahrzehnte.

Er wird uns sehr fehlen.

Aus „Sonntag“, Nr. 30/1967