Peter Michel nimmt Vandalen ins Visier
Wir wollen das reiche kulturelle Erbe unseres Landes bewahren, das durch die Vielfalt seiner Länder und Regionen geprägt ist“, schrieb die CDU 2007 in ihr Grundsatzprogramm. Mir kamen dabei fast die Tränen! Möchte man wirklich der jahrzehntelangen Politik des wissenschaftlich-kulturellen Boykotts und der Diskriminierung ein Ende setzen?, ging es mir damals durch den Kopf. Aber ich will nicht ungerecht sein und nur auf eine Partei zeigen, die dem Erbe des „Beitrittsgebiets“ ablehnend gegenübersteht. Auch andere haben augenscheinlich davor Angst. Selbst die seinerzeitige PDS hat ja Willi Sittes berühmtes Monumentalgemälde „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwinden lassen.
Peter Michel stellt solchen wohlklingenden Phrasen, wie sie die CDU von sich gab, seinerseits die Frage „Kulturnation Deutschland?“ entgegen, ja, er zieht diese sogar in Zweifel. Seine Streitschrift wider die modernen Vandalen ist keine nostalgische DDR-Vergoldung, sondern ein wütender Aufschrei gegen jede Form kultureller Barbarei.
Sachlich konstatiert der Autor, daß eine geschichtliche Zäsur stets mit der „Neubewertung von Kultur, Ethik, Moral und Kunst“ einhergeht. Das war zu allen Zeiten so. Michel verweist auch auf sektiererische Entscheidungen in der DDR, die zur Vernichtung von Teilen des kulturellen Erbes führten. Doch das Sündenregister der 1990 in ganz Deutschland wieder zum Zuge Gelangten ist schier unendlich. „Die immense Zahl der Beispiele von Gemeinheit, niedrigster Gesinnung, Opportunismus, bösartigem Kalkül und vorauseilendem Gehorsam bei Abriß, Zerstörung, Vernichtung und Diffamierung macht es fast unmöglich, bei der Lektüre ruhig zu bleiben“, bemerkte Arnold Schölzel in der jungen Welt.
Eine „Spur der Schande“ wird in dem Buch offenbar. Sie reicht von den aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit genommenen und vernichteten Schätzen bildender und angewandter Kunst über das Schleifen des Palastes der Republik bis zum Straßen und Plätze betreffenden Umbenennungswahn. Nahezu fassungslos steht der Leser Michels Auflistung der zerstörten Werke des Metallgestalters Fritz Kühn (1910 bis 1967), den der Pariser Louvre 1969 posthum mit einer Personalausstellung ehrte, und der seines Sohnes Achim Kühn gegenüber. Nicht nur ein Lebenswerk wurde hier ausgelöscht, sondern auch nationales Kulturerbe!
Neben der Beseitigung öffentlich gezeigter Kunst ereignete sich im Annexionsgebiet der BRD ein kultureller Kahlschlag ohnegleichen: Etwa 30 Millionen Bücher aus DDR-Verlagen sind in Tagebaue gekippt oder auf Mülldeponien „entsorgt“ worden.
„Die Leiter von 152 Theatern der DDR, von 135 Solistengruppen, 42 Theaterchören, 41 Theaterballetten, von 1053 Klubhäusern, 636 Museen und 102 Zoologischen und Heimattiergärten wurden zu einem großen Teil gemeinsam mit ihren Einrichtungen ,abgewickelt‘.“ Von den zahlreichen kleinen Kulturbund-Galerien blieb fast keine übrig. Gezielt wurden Gedenktafeln für antifaschistische Widerstandskämpfer oder Denkmäler, die an Opfer des Faschismus erinnern, beseitigt.
Doch Michel kann auch positive Beispiele anführen: Walter Womackas Bildfries am Berliner Haus des Lehrers wurde restauriert, die Stadt Thale brachte ein in Suhl abgetragenes Wandbild Willi Neuberts in ihren Mauern an. Die kleine Fassung von Jürgen Raues Greizer Denkmal „Befreiung“ gelangte aus Auschwitz über das Beeskower Depot nach Potsdam, was ganz wesentlich Peter Michel zu verdanken ist. Nicht zuletzt werden auch Denkmalpflegeämter, Gemeinden, Bürgerinitiativen und Privatleute gewürdigt, die eingreifen, um bedrohte Kunstwerke zu retten. Sind diese Beispiele aber mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein?
Ex-Bundespräsident Horst Köhler dürfte in seiner Rede am 3. Oktober 2008 wohl nicht gerade an Rosa Luxemburg gedacht haben, als er warnte: „Kulturlosigkeit öffnet die Tür zur Barbarei.“ Doch seine Worte entsprachen dem Stand der Dinge.
In den Auslagen des „gut sortierten Buchhandels“ ist Peter Michels schmales Bändchen übrigens nicht zu finden. Richtiger müßte man wohl vom selektierenden Buchhandel sprechen – einer spezifischen Form der Kulturbarbarei ideologischer Natur.
Immerhin gehörte dieser Autor ja zu den profiliertesten Kunstkennern der DDR. Dreizehn Jahre war er Chefredakteur der renommierten Zeitschrift „Bildende Kunst“, viele Jahre trug er später die Verantwortung für die von der Gesellschaft für Bürgerrecht und Menschenwürde (GBM) herausgegebene Zeitschrift „ICARUS“. Seine ständige publizistische Auseinandersetzung mit dem bundesdeutschen Kulturbetrieb übersehen zu wollen, wäre eine grobe Unterschlagung.
Daß der Verlag Wiljo Heinen bei seinen stets Farbe bekennenden Editionen auf dem ungeschriebenen Index der Herrschenden steht, dürfte niemanden überraschen. Für kritische Geister ist das ein Grund mehr, dessen Angebot näher ins Auge zu fassen.
Peter Michel:
Kulturnation Deutschland?
Streitschrift wider die modernen Vandalen
Verlag Wiljo Heinen, Berlin und Böklund 2012, 122 S.
7,50 €
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