Zum geschichtlichen Ort Ernst Blochs
Philosophie in der Zeitwende
Die ersten Tage der Trauer sind vorüber. Am 9. August 1977 wurde Ernst Bloch in Tübingen zu Grabe getragen, zweieinhalbtausend Studenten begleiteten seinen letzten Weg und ehrten ihn am Abend mit einem Fackelzug. Er war einer der unseren – das sagten die siebzig Jahre Jüngeren; und auch sie: Er wird uns fehlen, aber sein Denken wird uns auch in Zukunft helfen. Die ganz Jungen erheben Anspruch auf das Erbe des großen Alten, der nie alt wurde.
Erbe
„Erbschaft dieser Zeit“ war der Titel des Buches, mit dem Bloch 1935 richtungweisend auf die Formation der antifaschistischen Volksfront einwirkte – ein Buch aus dem Geiste des VII. Weltkongresses der Komintern; das Erbe der bürgerlichen Kultur nicht dem Klassenfeind zu überlassen, es einzubringen in den großen, weltweiten Klassenkampf als unverzichtbares Element des realen, sozialistischen Humanismus: das war das Programm. Bloch zeigte, wie die niedergehende bürgerliche Welt ihre inneren Widersprüche so aus sich heraussetzt, daß aus ihrem zerfallenden Weltbild ein beerbbarer Kern, ein über sich selbst hinausweisender Problembestand losgesprengt werden kann. Wo die geschichtsphilosophische Kategorie Erbe ernst genommen wird, kommt man an Blochs philosophischer Begründung nicht vorbei.
Nun ist er selbst ein Stück Erbschaft dieser Zeit. Er war, wohl zum letzten Male in der Geschichte des Denkens, ein großer Philosoph in der traditionellen Bedeutung des Wortes – wenn er auch die neue, von Marx begriffene Qualität der Philosophie erkannte und anerkannte: jene Einheit von Theorie und Praxis, in der Philosophie durch das Proletariat zugleich aufgehoben und verwirklicht wird.
Er blieb indessen ein Metaphysiker, der zeigte, daß auch noch die Metaphysik zu beerben ist. Er gab dem letzterschienenen Band der Gesamtausgabe, der Auswahl aus den Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, den beziehungsreichen Titel „Zwischenwelten“. Bloch war wiederum eine Zwischenwelt wie die der Kirchenväter, des Johannes Eriugena, der Renaissancephilosophen. Ganz und gar Bürger noch, bis ins Herz seiner Philosophie, die eine solche des Subjektfaktors in der Welt ist, bis hin zu einem Naturverständnis, das die Natur (fast pantheistisch) als Subjekt faßt; und zugleich schon Vorbote der klassenlosen Gesellschaft, sich bekennend zur Oktoberrevolution, zum wissenschaftlichen Sozialismus und seiner Bestimmung der dialektischen Gesetzlichkeit des Geschichtsprozesses; Partei ergreifend für die Sache des Proletariats.
Zwischenwelt
Der historische Ort Blochs in einer Zwischenwelt macht die Fruchtbarkeit und die Widersprüchlichkeit seiner Philosophie aus. Noch über eine Welt verfügend, zu der er nicht mehr gehörte, vermochte er geschärft zu vernehmen, was daran produktiv weiterwirkt, und es weiterzureichen; schon eine Welt antizipierend, der er noch nicht gehörte, konnte er der Gefahr entgehen, Apologet des Gewesenen zu sein. Doch Antizipation, die sich so recht vom Gewesenen und Gewordenen abstoßen will, überfliegt auch leicht das Hier und Jetzt, mißkennt die Schwierigkeit, Widersprüchlichkeit, Mühseligkeit der kleinen Schritte im Wirklichen, vernachlässigt in der Hoffnung auf den großen Sprung und Umschlag die kontinuierliche Vermittlung des Übergangs, obschon theoretisch die begriffene Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität durchaus in der Philosophie der Möglichkeit und des Noch-Nicht verankert ist. Beflügelnd ist die Einsicht, daß die von Ausbeutung und Klassenherrschaft befreite Menschheit all jene Werte, die im Laufe ihrer Geschichte gesetzt und vereitelt wurden, einholen und verwirklichen werde. Die Aneignung der Vergangenheit durch die klassenlose Gesellschaft bedeutet aber zugleich die Verwandlung der Tradition in einer Weise, die weder vorweggenommen noch vorweg entschieden werden kann; denn sie wird erst das Ergebnis jenes unermüdlichen, von Rückschlägen immer wieder verzögerten Kampfes sein, in dessen Verlauf die kommunistische Lebensweise als die Selbstbestimmung des Menschen in der Übereinstimmung von Gattungs- und Individualinteresse errungen wird.
Utopie
In der Spannung zwischen Geschichte und Zukunft bleibt unaufgelöst, wie das Erbe ins Ziel eingebracht werden könne. Der Reflex dieser unaufgelösten Spannung ist der utopische Entwurf. Bloch unterscheidet sich zwar klar von jenem utopischen Sozialismus, dessen Mängel und schließlichen Umschlag in die Konterrevolution Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest“ kritisiert hatten und den Engels in seiner Schrift „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ analysierte; denn Bloch hat sich seit den zwanziger Jahren an Lenins Parteitheorie angeschlossen und die entscheidende Rolle der Organisation der Arbeiterklasse für die Verwirklichung des Sozialismus erkannt. Er hat sich persönlich immer wieder gegen Putschismus, Abenteurertum und individualistische Revoluzzerei gewandt und hat in den ontologisch grundlegenden Partien seiner Philosophie einen allgemein-kategorialen Rahmen errichtet, der den Grundbegriffen des dialektischen Materialismus entspricht: die Einheit der Welt in der Materialität, Dialektik von Determinismus und Freiheit, Entwicklungslehre mit Umschlag von Quantität in Qualität und Negation der Negation als Bewegungsprinzipien, Rolle des objektiven Widerspruchs, Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit.
Doch kann sich keine konkrete Philosophie nur mit dem Entwurf eines kategorialen Rahmenwerks zufriedengeben. Für den historischen Materialismus ist die inhaltliche Ausfüllung des Rahmens, d. h. die Spezifikation der Kategorien, Moment der Einheit von Theorie und Praxis. Daß in diese Konkretisierung Zielvorstellungen eingehen müssen, daß eine Vermittlung zwischen Fern- und Nahzielen gefunden werden muß, ist unbestritten und macht den Inhalt philosophischer Forschung und philosophischen Meinungsstreits aus.
Bloch versuchte, die Inhalte des Fernziels, ja des letzten Ziels durch Chiffren zu bezeichnen, die er dem revolutionären Erbe der Menschheitsgeschichte entnahm. Dieser Methode eignet, wo sie in politische Praxis übergeht, eine unaufhebbare Zweideutigkeit. Diese Zweideutigkeit ist jedoch keine subjektive des Standpunkts, sondern eine objektive der Zwischenwelt: Sie ist ein Merkmal des Übergangs von bürgerlicher Philosophie zu wissenschaftlichem Sozialismus. In assoziationsträchtige Bilder gekleidet, bekommen die allgemeinen Kategorien des historischen Materialismus wieder utopischen Charakter. Im Zu-früh der ausgemalten Bestimmung isolieren sich ferne Ziele wieder vom Weg, der zu ihnen führt. Wie schon Hegel zeigte, werden konkrete Begriffe, vereinzelt in sinnlicher Chiffrierung, wieder zu abstrakten. Diese aber sind, werden sie als konkrete gebraucht, zweideutig und werden es zuweilen für den Autor selbst.
Chiffren
Das tritt an den gesellschaftspolitischen Chiffren ebenso zutage wie an den naturphilosophischen. Der Übergang von der Dialektik der Natur zu einem Schellingschen Natursubjekt wird bruchlos vollzogen; was Bloch von Schelling schreibt, könnte auch über ihn selbst gesagt sein: „Alles steht auf dem kochenden Weltherd, die Natur ist ein riesiger, kreißender Leib, der das Menschenkind gebiert.“ (Werke 12, 313) Die Materie als Schoß statt als Klotz ist eine originär Blochsche Formulierung; und so richtig an ihr die Wendung gegen das bloß Mechanische, so mystisch klingt dann doch eine Naturgeschichte als Teleologie, in der schließlich das Reich der Freiheit mit dem Garten Eden austauschbar werden mag.
Noch deutlicher wird die Ambivalenz an politischen Chiffren, wo sie in Aktualität übersetzt werden. Da gibt es einerseits in Band 11 der Gesamtausgabe – „Politische Messungen“ – Aufsätze, entstanden vor zwanzig, fünfundzwanzig Jahren, wie den über die Menschenrechte, der heute geschrieben sein könnte, um den Carter-Schwindel zu entlarven. Da gibt es, nach dem XX. Parteitag der KPdSU, den Satz über die Renegaten, daß sie nicht einmal das Recht haben, recht gehabt zu haben. All dies 1970 wieder veröffentlicht. Dazu die klare Absage 1968 an Rudi Dutschkes linksradikale These, das Verhältnis von subjektiver und objektiver Dialektik habe sich zugunsten der subjektiven verkehrt.
Dann aber werden Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die Chiffren der französischen Revolution, als eine Invariante der Richtung bezeichnet – und sie schlagen, ihrem abstrakten Gehalt gemäß, zuweilen um in eine von den historischen Gegensätzen und Widersprüchen des Heute abgehobene Norm des Humanum, aufgrund deren unterschiedslos und ohne Analyse politische Werturteile gefällt werden, die mit dem sonstigen Werk nicht mehr in theoretischem Einklang stehen. Da kommen, als ein keineswegs stimmiger und geradliniger Anhang, nach 1961 Äußerungen pauschaler Ablehnung der Formen des sozialistischen Staates in der DDR und in der Sowjetunion vor, die ihre Diktion aus eben der zuvor entlarvten abstrakten bürgerlichen Humanitätsideologie herleiten und die eben zuvor entlarvte Vorurteile reproduzieren. Bloch ist gewiß nie zum Klassenfeind übergegangen, den er ein Leben lang bekämpft hat. Doch er dachte in Chiffren eines utopischen Gelungenseins, deren Gehalt sich in konkreter politischer Situation – gemessen an den Unvollkommenheiten des Werdens – umkehren konnte; auch darin Denker einer Zwischenwelt.
Eins aber hat Bloch sicher nicht verdient: postum als Kronzeuge angerufen zu werden für einen mit Kritik am Kapitalismus verbundenen Emotionsausbruch gegen den Kommunismus der DDR und der Sowjetunion, den Rudi Dutschke als Redner bei der Trauerfeier vortrug. Ihm hat Bloch vorwegnehmend geantwortet: „In der Tat haben die Wortführer eines ,third way‘ sich durchaus auf diese ,nach allen Seiten kritische‘ Theorie gelegt, und Amerika läßt sich von ihnen liebend gern kritisieren, wenn nur die Sowjetunion hierbei das Tausendfache abbekommt.“ (Werke 11, 343 f.)
Aus DVZ Nr. 34/1977
Buchtips
Hans Heinz Holz:
Logos spermatikos
Ernst Blochs Philosophie der unfertigen Welt
Luchterhand, Neuwied 1975
Ernst Bloch in Selbstzeugnissen
Dargestellt von Sylvia Markun
rororo-Bildmonografie Nr. 258, Rowohlt, Reinbek 1977
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