PTB: Der Sozialismus ist kein Kochbuch
Am 14. Oktober 2012 errang die Partei der Arbeit Belgiens (PTB/PvdA) einen spektakulären Erfolg. Europas am schnellsten wachsende marxistische Partei, der allein vom Wahltag bis zum März 2013 mehr als 2000 neue Genossen beigetreten sind – darunter nicht wenige in Belgien lebende Migranten aus Asien und Afrika – zählte zu diesem Zeitpunkt 6811 eingetragene Mitglieder. Über die beeindruckenden Resultate bei den Kommunal- und Provinzialwahlen – die PTB zog z. B. in die Distriktparlamente von acht der neun Antwerpener Stadtbezirke ein und konnte im 40 000 Einwohner zählenden Arbeiter- und Zuwanderer-Revier von Borgerhout bei einem Stimmenanteil von 17 % ihre erste gewählte Stadträtin beglückwünschen – haben wir den RF-Lesern seinerzeit ausführlich berichtet.
Worin aber liegen die Gründe für das außergewöhnliche Voranschreiten dieser in der Altersstruktur und ihrer Geschichte nach jungen Partei, die sich in die Tradition der belgischen Kommunisten gestellt hat? Besitzt sie eine Droge zur Massenverzauberung? Oder reden ihre Führer, wie es allerorts Opportunisten tun, den Leuten nach dem Mund?
Von all dem kann keine Rede sein. Die PTB liefert ein geradezu klassisches Beispiel dafür, wie die Verbindung von Prinzipienfestigkeit und Toleranz gegenüber Andersdenkenden aus dem linken Spektrum der Gesellschaft zum Erfolg führt.
Der noch junge, aber bereits hinreichend kampferfahrene und theoretisch hochbefähigte PTB-Vorsitzende Peter Mertens, dessen inzwischen auch im Mainzer Verlag André Thiele erschienenes Buch „Comment osent-ils?“ (Wie können sie es wagen?) in Belgien buchstäblich über Nacht zu einem Bestseller wurde, hat in einem „Solidaire“-Interview zu Strategie und Taktik seiner Partei Rede und Antwort gestanden.
„Wo will die PTB hin, und was ist der Sozialismus, für den sie sich schlägt?“ begann das spannende Frage- und Antwort-Spiel.
„Wir stehen vor enormen Herausforderungen. Es geht darum, jedem neuen Mitglied der stürmisch wachsenden PTB seinen Platz zu geben und zugleich die Organisation als marxistische Partei funktionsfähig zu halten“, erwiderte Peter Mertens. Man dürfe nicht annehmen, daß Menschen allein auf Grund ihrer Unzufriedenheit automatisch nach links gedrängt würden. „Wenn wir den Tendenzen der weiter zunehmenden Rechtsentwicklung auch auf dem Gebiet der Ideen Einhalt gebieten wollen, brauchen wir eine echte Kraft, eine fest in den Massen verwurzelte Partei“, stellte der PTB-Vorsitzende fest. „Wir haben die Pflicht, nicht Zuschauer, sondern Akteure in dieser Gesellschaft zu sein.“ Die sich ständig vertiefende Systemkrise eröffne einen wachsenden Spielraum links von der Sozialdemokratie, die sich in Europa vollständig diskreditiert und an den Kapitalismus verkauft habe. Dieses Vakuum könne allerdings auf verschiedene Weise gefüllt werden. Die PTB nähere sich – was die Organisierung des Widerstandes und die Vision von einer ausbeutungsfreien Gesellschaft betreffe – am meisten der portugiesischen PCP.
Peter Mertens wich einer Bewertung der Rolle der durch die Konterrevolution zerstörten UdSSR und der anderen sozialistischen Staaten Europas nicht aus. „Wir verteidigen das Projekt einer sozialistischen Zukunft im 21. Jahrhundert“, sagte er. Sollte man dabei die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts über Bord werfen? Das sei intellektuell unredlich. Sowohl die UdSSR als auch China hätten sich aus unterentwickelten in moderne und produktive Länder verwandelt. Die Bevölkerung habe nie zuvor bestehende Möglichkeiten erhalten. Als Beispiel führte Peter Mertens das vorbildliche sowjetische Gesundheitswesen, die in den sozialistischen Staaten Europas verwirklichte Konzeption sozialer Sicherheit und das Volksbildungswesen der DDR an. Dessen eingehendes Studium habe Finnland bekanntlich in die Lage versetzt, heute zu den in dieser Hinsicht fortgeschrittensten Ländern Europas zu zählen. „Der finnische Bildungsminister sagte, das System seines Landes basiere zu großen Teilen auf den Erfahrungen des ostdeutschen polytechnischen Unterrichts“, stellte Peter Mertens fest. „Oder nehmen wir die Emanzipation der Frauen – was für ein enormer Fortschritt!“ In Kuba seien derzeit 65 % aller wissenschaftlich-technischen Kader weiblich!
Überdies werde die PTB niemals die Tatsache vergessen, in welchem Maße der Sozialismus zur Niederlage des Hitlerfaschismus beigetragen habe. „Wenn 27 Millionen sowjetische Menschen nicht ihr Leben geopfert hätten, sähe die Welt heute anders aus.“
Alle positiven Seiten des Sozialismus im 20. Jahrhundert müßten auch für den Sozialismus im 21. Jahrhundert bewahrt werden, unterstrich der PTB-Vorsitzende. Andererseits wären die belgischen Marxisten schlecht beraten, wenn sie negative Erfahrungen der UdSSR und der übrigen sozialistischen Staaten Europas übernehmen würden. „Es gab Fehler, gravierende Fehler, die uns als Lektionen für die Zukunft dienen sollten“, sagte Peter Mertens.
Auf die Frage, ob es zutreffe, daß sich die ursprünglich zu engeren Auffassungen tendierende PTB nach ihrem Parteitag im Jahre 2009 mehr geöffnet habe, weniger sektiererisch und weniger dogmatisch geworden sei, antwortete der belgische Arbeiterführer: „Wir wollen keine Partei sein, die sich nicht an Prinzipien hält. Wir haben nicht die Ambition, den Weg der Sozialdemokratie nachzuvollziehen, die lediglich gewisse Auswüchse des Kapitalismus beschneiden, aber an der Verwaltung des Systems selbst teilhaben möchte. Nein, wir sind eine marxistische Partei, die für eine moderne sozialistische Gesellschaft kämpft.“
Die PTB müsse sich jedoch verändern und zu einer offenen Partei werden, in der sich jeder Werktätige wohl fühle. Es gehe um eine Partei ohne Dogmatismus. „Der Sozialismus ist kein Kochbuch, aus dem man erfahren kann, wieviel Gramm man hierfür und wieviel dafür braucht. Wir haben nicht für alle Probleme fertige Antworten …“ Der PTB-Vorsitzende fügte hinzu: „Erforderlich ist eine Sprache ohne Ausrufungszeichen, ohne Jargon und – bitte schön – nicht ohne Humor.“
Peter Mertens zog Bilanz: Man wäre blind, sähe man nicht, daß sich die PTB wirklich verändert hat.
RF, gestützt auf „Solidaire“, Brüssel
Peter Mertens:
Wie können sie es wagen?
Der Euro, die Krise und der große Raubzug
Verlag André Thiele, Mainz 2013, 360 S.
19,90 €
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