Raúl Castro – Revolutionär und Staatsmann
Über Fidel Castro gibt es viele Bücher, über seinen Bruder Raúl weiß man kaum etwas. Wenn in westlichen Medien einmal von ihm die Rede ist, dann ganz sicher nicht in einer Art, die ihm gerecht werden könnte. Das änderte sich auch nach dem historischen 17. Dezember 2014 nicht, als er zeitgleich mit US-Präsident Barack Obama vor der ganzen Welt eine neue Ära in den Beziehungen beider Länder ankündigte, auch nicht, als er in Havanna Gastgeber war, als erstmals seit 1000 Jahren der Papst und das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche aufeinandertrafen, und auch nicht durch seine Vermittlerrolle bei den langjährigen Friedensverhandlungen zwischen der kolumbianischen Regierung und der Guerilla in Havanna.
Es dauerte noch bis zum Sommer 2015, als der russische Autor Nikolai Leonow, den eine über 60 Jahre lange Freundschaft mit dem jetzigen kubanischen Staatschef verbindet, seine Biographie über Raúl Castro herausgab, die erste weltweit, die aber nur in russischer und spanischer Sprache existiert.
Für die deutschsprachige Leserschaft hat nun der Journalist Volker Hermsdorf im Verlag Wiljo Heinen sein Buch „Raúl Castro – Revolutionär und Staatsmann“ veröffentlicht.
Hier erfährt man z. B., daß der jüngere Bruder des großen kubanischen Revolutionsführers Fidel Castro keinesfalls nur im Schatten seines Bruders wirkte. Der Leser lernt einen rebellischen Raúl kennen, der, im Gegensatz zu Fidel, nicht bereit war, sich dem Zwang einer Jesuitenschule mit ihren dauernden Gebeten unterzuordnen. Sein Vater holte ihn zurück zur heimischen Finca nach Birán und ließ ihn Feldarbeit verrichten. Das war als Strafe gedacht, aber sein Sohn fühlte sich zwischen Arbeitern und Tagelöhnern äußerst wohl. Als dem Familienoberhaupt jedoch zu Ohren kam, daß sein Sohn mit den Arbeitern deren soziale Lage diskutierte, beschloß er, ihn wieder zu Fidel nach Havanna zu schicken, denn „wenn er hier bleibt, verwandelt er sich in einen Kommunisten“, fürchtete er.
Fidel hatte inzwischen herausgefunden, wie Raúl auch ohne Hochschulreife an der Universität studieren konnte, und machte seinen jüngeren Bruder mit den Schriften von Marx und Engels bekannt. Er entwickelte bald seine eigene politische Position und trat anders als sein Bruder nicht der „Partei des kubanischen Volkes – Die Orthodoxen“ bei, weil er bereits vor dem Staatsstreich Batistas nicht mehr an eine mögliche Veränderung durch Wahlen glaubte. Mit 21 Jahren hatte sich Raúl als Organisator von studentischen Protestaktionen derart hervorgetan, daß verschiedene Jugendorganisationen ihn als Leiter der kubanischen Delegation zu einer internationalen Konferenz nach Wien schickten. Sein Auftreten in Wien war so überzeugend, daß man ihn zum Vorbereitungstreffen der Weltfestspiele der Jugend und Studenten nach Bukarest einlud. Dort schloß er viele Bekanntschaften, die ihm später noch nützlich werden sollten. Auf der Überfahrt nach Havanna lernte er den sowjetischen Diplomaten Leonow kennen, der schließlich sein erster Biograph werden sollte. Er hatte den jungen Kubaner angesprochen, als er ihn Makarenko lesen sah.
Nachdem er am 6. Juni 1953 wieder in Havanna angekommen war, überschlugen sich die Ereignisse. Noch auf dem Schiff wurde er festgenommen, weil bei ihm rumänische Broschüren gefunden wurden, er kam ins Gefängnis, wurde dort mißhandelt, trat dem kommunistischen Jugendverband bei und nahm einen Monat nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis an dem Angriff auf die Moncada-Kaserne in Santiago teil. Auch wenn dieser fehlschlug, wurde er doch der Startschuß für die Revolution, die Kuba für immer verändert hat.
Als Guerillaführer verwirklichte er in der befreiten Zone, die ihm unterstand (der sogenannten Zweiten Front), bereits im kleinen die Vorstellung eines revolutionären Gemeinwesens. Nach dem Sieg der Revolution wurde er zum jüngsten Verteidigungsminister der Welt in einem Land, das von Beginn an vom mächtigen Imperium bedroht wurde. Das Konzept der Revolutionären Streitkräfte mit seinen Einrichtungen, Unternehmen und Milizen hat sich in 58 Jahre als erfolgreich erwiesen.
Volker Hermsdorf zeigt auf, wie Raúl Castro dadurch, daß er den Revolutionären Streitkräften schon in den 60er Jahren über die Verteidigung des Landes hinaus Aufgaben in der landwirtschaftlichen Produktion und bei der Unterstützung des Tourismus und staatlicher Betriebe zugewiesen hatte, die Grundlagen für das Überleben Kubas in der sogenannten Sonderperiode nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion legte. Auch die Verteidigung war mit der Doktrin des Krieges des ganzen Volkes bereits so organisiert worden, daß das Land bereit war, sich auch ohne den Schutz der Sowjetunion aus eigener Kraft zu verteidigen.
All das macht deutlich, wie groß die Leistungen des jetzigen kubanischen Präsidenten sind. Er ist nie jemand gewesen, der sich in den Mittelpunkt gestellt hat und nach Ruhm strebte. Gerade deswegen ist es wichtig, daß dieses Buch dem Leser die Möglichkeit gibt, die Dimension des Wirkens eines Mannes zu erkennen, der heute als Staatsmann seine Aufgabe darin sieht, die Unabhängigkeit, Souveränität und Würde des kubanischen Volkes zu erhalten, wie es im Klappentext des Buches heißt.
Volker Hermsdorf:
Raúl Castro
Revolutionär und Staatsmann
Verlag Wiljo Heinen, Berlin 2016, 350 Seiten
16,00 €
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