Redliches Nachdenken über eine Ausreise
Im April 1946 kehrte ich als 21jähriger, der drei Jahre am Hitlerkrieg hatte teilnehmen müssen, aus amerikanischer Gefangenschaft in meine Heimatstadt Dresden zurück. Zuvor erfolgte in Hoyerswerda die Entlausung, und ich erhielt einen Fragebogen, den ich bei der Anmeldung in der Elbmetropole der sowjetischen Kommandantur vorlegen mußte. Nach dem „Fragebogengespräch“ erklärte mir eine Kommissarin in perfektem Hochdeutsch: „Sie wissen ja, daß Sie an einem verbrecherischen Krieg teilgenommen haben. Unser Land wurde bis Moskau in Schutt und Asche gelegt. Das gleiche geschah auch mit Ihrer Heimat, wie man ja in Dresden sehen kann. Gehen Sie jetzt nach Hause und helfen Sie mit, ihr Land wieder aufzubauen.“ Und sie gab mir noch einen Rat: „Schließen Sie sich sofort der Friedensbewegung an und kämpfen Sie mit dafür, daß von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgeht!“
Dieser Empfehlung folgte ich. Am 1. Mai 1950 wurde ich als Aktivist der ersten Stunde ausgezeichnet. Doch was geschah dann?
Im Potsdamer Abkommen waren Wiedergutmachungen an die UdSSR festgelegt worden, zu denen die Stationierungskosten für etwa 400 000 Sowjetsoldaten kamen. Unter Reparationsleistungen fielen auch der Abbruch des damals letzten Kohlekraftwerks in Espenhain bei Leipzig sowie die Demontage der zweiten Bahngleise, woran ich selbst beteiligt war. Im Dresdner Sachsenwerk gab es am Ende keinen Schraubenschlüssel mehr, auch er wurde im Rahmen der Wiedergutmachung mitgenommen. So waren die Jahre nach dem Krieg eben eine schwere Zeit.
Ich hatte inzwischen geheiratet, zwei Kinder kamen. Der Einkauf auf Lebensmittelmarken war knapp, als Unterkunft diente uns nur eine Notwohnung.
Viele meiner Freunde und Bekannten verließen in jenen frühen Jahren die DDR, den Arbeiter-und-Bauern-Staat. Weshalb taten sie das?
Im Westen war alles ganz anders gelaufen. Die dortigen drei Zonen erbrachten fast keine Reparationsleistungen. Adenauer erhielt statt dessen den Marshallplan und Kredite zum Wiederaufbau. Buchstäblich über Nacht waren die Regale in den Läden mit jenen Konsumgütern gefüllt, nach denen man sich jahrelang gesehnt hatte. Von meinen Geschwistern, welche die DDR bereits verlassen hatten, bekamen wir nun Pakete mit Kaffee und Klamotten. Da war es nur noch eine Frage der Zeit, mit der Familie ebenfalls über Westberlin „abzuhauen“.
Alles half nichts mehr – weder die Gedanken an eine neue Gesellschaft, die man hatte mit aufbauen wollen, noch die unentgeltlichen Leistungen des Gesundheitswesens, bezahlbare Mieten und billige Grundnahrungsmittel. Auch nicht die Tatsache, daß meine Frau den gleichen Lohn wie die Männer und obendrein einen monatlichen Haushaltstag bekam. Oder daß es für den Nachwuchs einen Betriebskindergarten gab. Selbst die großen Friedensmärsche, die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und vieles andere spielten keine Rolle mehr. Von den „Russen“ konnten wir keine materielle Hilfe erwarten, die hatten mit dem erzwungenen Wettrüsten genug zu tun, was der sowjetischen Bevölkerung – wie der unseren – wichtige Güter entzog.
Anfang 1961 verließen wir die DDR. Die DDR sah sich damals erheblichen Schwierigkeiten gegenüber. Sie besaß keine konvertierbare Währung, was zu Schwindelkursen von 1 : 4 führte. Quelle, Neckermann und andere erzielten beim Wareneinkauf aus der DDR enorme Profite. Mehr als zwei Millionen meist junge, gut ausgebildete Menschen gingen ihr im Laufe der Jahre verloren. Auch die übrigen Einbußen machten Milliarden aus: Diebstahl von Patenten und offene Sabotage waren in der Zeit des Kalten Krieges an der Tagesordnung. Das konnte auf Dauer nicht gutgehen!
Schon 1956 hatte mein bester Freund zu mir gesagt: „Morgen bin ich fort!“ „Wohin?“ fragte ich ihn. „Ich habe aus Frankfurt am Main ein Angebot, in meinem Ingenieurberuf bei doppeltem Gehalt zu arbeiten. In vier Wochen kann ich die Familie nachkommen lassen.“ 1958 erfuhr ich, daß im Krankenhaus von Dresden-Friedrichstadt über Nacht fünf Ärzte davongelaufen waren, so daß am nächsten Morgen keine Visite erfolgen konnte.
Der Mauerbau verlängerte zwar die Existenzdauer des Staates DDR, doch blieb es das Ziel der NATO-Staaten, den Sozialismus kaputtzumachen. Am Ende haben sie es geschafft, ohne auch nur einen einzigen Schuß abgeben zu müssen.
Dabei hätte alles ganz anders verlaufen können. Anfang der 50er Jahre bot Moskau Verhandlungen über einen Friedensvertrag mit Deutschland an. Ziel war der Abzug aller vier Besatzungsmächte, die Gewährung von Grundrechten, freie Wahlen in ganz Deutschland. Die einzige Bedingung dafür lautete: Kein Beitritt zu irgendeiner Militärkoalition, strikte Wahrung der Neutralität. Von deutschem Boden sollte nie wieder Krieg ausgehen.
Hatte mir das nicht schon die Kommissarin in Dresden gesagt?
Nach dem Verlassen der DDR sind wir Aachener geworden und leben nun schon seit Jahrzehnten im kapitalistischen System. Was aus unseren Enkeln wohl werden mag, macht uns sehr besorgt.
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