RotFuchs 205 – Februar 2015

Mexikos Machthaber sind vor aller Welt diskreditiert

Rekordhalter bei ungeklärten Morden

RotFuchs-Redaktion

Seit Monaten sieht sich Mexiko mit einer innenpolitischen Situation konfrontiert, die aus der Perspektive journalistischer Beobachter – zumindest seit der Revolution von 1910 bis 1920 – ohne Beispiel ist. Eine Protestwelle von ungekannter Dimension und Heftigkeit überflutet seitdem das territorial größte und einwohnerreichste Land im nördlichen Mittelamerika.

Ausgelöst wurde die jüngste Krise durch blutige Geschehnisse, die sich in der Nacht vom 26. zum 27. September in der von Drogenbanden beherrschten Stadt Iguala zutrugen.

43 links eingestellte Studenten des Lehrerbildungsinstituts Ayotzinapa waren unter Regie des alsbald festgenommenen Bürgermeisters und dessen mit der Drogenmafia verbandelter Frau sowie bei aktiver Mithilfe örtlicher Polizeikräfte verschleppt und dann vermutlich ermordet worden.

Wie der mexikanische Generalsstaatsanwalt Jesus Murillo Karam bald darauf einer skeptischen Nation mitteilte, seien sterbliche Überreste junger Leute in einem Flußbett des Bundesstaates Guerrero gefunden worden. Nach der vermeintlichen Identifizierung eines der Opfer hieß es, der Fall sei damit aufgeklärt.

Doch die ungläubigen Eltern der entführten Studenten, mit denen sich Millionen Mexikaner solidarisch erklärten, gaben daraufhin die Losung aus: „Man hat sie uns lebend genommen – wir wollen sie lebend zurück!“

Woraus resultierte diese Skepsis gegenüber amtlichen Verlautbarungen der mexikanischen Behörden?

Das grausige Geschehen in Iguala stellte durchaus keinen „isolierten Einzelfall“ dar, wie Mexikos Regierung im Bunde mit korrupten Politikern und käuflichen Polizisten die Bevölkerung glauben machen wollte. In der Presse wurde darauf verwiesen, immer mehr Mexikaner seien der Ansicht, daß die Verantwortung für das jüngste ungeheuerliche Verbrechen nicht auf der lokalen, sondern auf einer „viel höheren Ebene gesucht“ werden müsse. Inzwischen wird das Kabinett von Präsident Enrique Peña Nieto von der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) immer öfter als „Narco-Gobierno“ (Regierung der Drogenhändler) bezeichnet.

Nach der offiziellen Version ordneten Igualas Bürgermeister José Luis Abarca, Mitglied der vorgeblich weiter nach links tendierenden Demokratischen Revolutionären Partei (PRD) und dessen über enormen Einfluß verfügende Frau aus rein örtlichen Gründen den Überfall auf die Studenten an. Diese hatten sich in der Stadt aufgehalten, um Transportgelder für die Fahrt nach Mexiko-Stadt zu sammeln, wo mit Gedenkveranstaltungen an ein blutiges Massaker auf dem dortigen Tlatelolco-Platz erinnert werden sollte. Dabei waren Hunderte Studierende durch Polizisten erschossen worden.

Der Schwager des Bürgermeisters gehörte nach der über die Medien verbreiteten Darstellung zur Führung einer sich als „Vereinigte Krieger“ bezeichnenden regionalen Verbrecherbande. Die Frau des Verwaltungschefs habe der mit den Gangstern aufs engste kooperierenden Polizei Igualas Order gegeben, den „Studenten eine Lektion zu erteilen“. Die Uniformierten nahmen die jungen Leute daraufhin fest und übergaben sie der Drogenmafia, deren Killer sie anschließend ermordeten, die zerstückelten Leichen verbrannten und in den Fluß San Juan warfen. Bei der Suche nach den Opfern entdeckten die Kriminalisten zahlreiche Massengräber mit Teilen verbrannter Leichen. Wie sich jedoch herausstellte, handelte es sich dabei nicht um jene Personen, nach denen gefahndet wurde.

In Mexiko weiß jeder, daß es im Land Hunderte solcher Orte gibt, wo Menschen, deren Identität unbekannt ist, nach ihrem gewaltsamen Tode einfach verscharrt worden sind. Nach der Entscheidung des früheren Staatspräsidenten Felipe Calderon von der scharf rechts orientierten Nationalen Aktionspartei (PAN), die mexikanische Armee im Rahmen eines von Washington finanzierten „Krieges gegen Drogen“ zum Einsatz gelangen zu lassen, ist die Zahl der Vermißten auf über 24 000 angestiegen, wobei von weit mehr Mordfällen ausgegangen wird.

Im Bundesstaat Guerrero herrscht seit langem blanke Gewalt. Sie richtete sich schon des öfteren mit besonderer Brutalität gegen die als „Normalistas“ bezeichneten Lehrerstudenten. So waren 2011 zwei künftige Pädagogen aus Ayotzinapa von Polizisten umgebracht worden.

Der Konflikt hat einen eindeutigen Klassenhintergrund, da das als besonders fortschrittlich geltende Normalista-System vor allem junge Leute aus armbäuerlichen und indigenen Familien, von denen viele nicht spanisch sprechen, für das Studium zu interessieren sucht. Nach dessen Abschluß bleiben die Absolventen in ihren armen Regionen und arbeiten dort nicht nur als Lehrer, sondern stellen sich oft auch an die Spitze der Bewegung für soziale Gerechtigkeit.

Als Enrique Peña Nieto im Jahre 2012 Mexikos Staats- und Regierungschef wurde, sorgte er unverzüglich für „Reformen“ in der Erdölindustrie, bei der Arbeitsgesetzgebung und im Erziehungswesen. Die von ihm eingeleiteten Maßnahmen waren ausnahmslos darauf gerichtet, Mexiko den multinationalen Konzernen gegenüber „noch freundlicher“ erscheinen zu lassen, als das ohnehin schon der Fall ist. Die „Reformen“ im Bildungsbereich richteten sich vor allem gegen die „Normalistas“. Da mit deren heftigem Widerstand gerechnet wurde, erging der Befehl, an den Studenten aus Ayotzinapa ein Exempel zu statuieren.

Nach dem neuerlichen Massenmord besetzten protestierende Lehrer und Hochschüler sowie ihnen solidarisch zu Hilfe eilende Gewerkschafter und Bauernaktivisten schlagartig etliche Rathäuser im Bundesstaat Guerrero. In Mexiko-Stadt setzte eine empörte Menge die massiven Holztore des Nationalpalasts in Brand. Senatorin Layda Sansores San Roman von der linksgerichteten Arbeiterpartei (PT) brachte mit einer Rede im Oberhaus des mexikanischen Parlaments dessen überwiegend reaktionäre Mandatsträger in Wallung, als sie das gesamte Polizei- und Militär-Establishment des Landes als „korrupt und mit den Drogenkartellen liiert“ anprangerte. Sie schloß ihre Rede mit der auch auf unzähligen Kundgebungen erhobenen Forderung nach Rücktritt des Staatspräsidenten, „damit eine saubere Regierung aus Neuwahlen hervorgehen“ könne.

RF, gestützt auf „People’s World, New York