Rußland kann den USA wieder auf Augenhöhe begegnen
Renaissance einer Weltmacht
Seit dem offenen Ausbruch der Ukraine-Krise plagen sich Analytiker, Polemiker, Globalpolitiker, Militärstrategen, Kommentatoren und Kaffeesatzleser – und zwar nicht nur im Paktbereich der NATO – permanent mit der Frage: Was hat Putin militärpolitisch mit Rußland vor? Putin, der Autokrat, Putin, der Erbe Jelzinscher Oligarchenwirtschaft, Putin, der gelernte Geheimdienstagent, Putin, der Scherbensammler einer abgestürzten Großmacht.
Putin, Putin, Putin und kein anderer? Die Denkfehler beginnen schon dort, wo der Brechtsche Lesende Arbeiter die Frage gestellt hätte: Hatte er nicht wenigstens einen Außenminister und einen Verteidigungsminister bei sich? Putin steht, seit er an der Macht ist und die Interessen der neuen russischen Eliten durchsetzt, im Zwielicht. Vielleicht wird man ihm später einmal dies Urteil zuschreiben: „Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.“ (Schiller, Wallenstein)
Was seinen Handlungswillen betrifft, schwankt er nicht. Er hat den Zusammenbruch der Sowjetunion schon vor mehr als zehn Jahren als „größte geostrategische Katastrophe“ des 20. Jahrhunderts bewertet. Er steht, so liest es sich in einem hervorragend recherchierten Buch der Autoren Ralf Rudolph und Uwe Markus, für den Versuch der „Renaissance einer Weltmacht“. Anders gesagt: Er stellt dem US-Präsidenten Barack Obama und dessen demütigender Einstufung Rußlands als „Regionalmacht“ den entschlossenen Willen der neuen politischen und militärischen Elite seines Landes entgegen, der Weltmacht USA bei Konflikten um Einflußsphären und Machtbereiche wieder auf Augenhöhe zu begegnen. Zumindest im eigenen geographischen Umfeld.
Der Untertitel des Buches verweist auf das Instrumentarium: „Rußlands Militärreform und exterritoriale Militärstützpunkte“. Die Autoren sind ausgewiesene Kenner der Materie. Ralf Rudolph hatte am Moskauer Institut für Luft- und Raumfahrt studiert und war zuletzt als Abrüstungsexperte im Verteidigungsministerium der DDR tätig. Uwe Markus, promovierter Soziologe, schrieb gemeinsam mit ihm die Bücher „Waffenschmiede DDR“ (über die „Spezielle Produktion“) und „Schlachtfeld Deutschland“ (über die jahrzehntelange Konfrontation von NATO und Warschauer Pakt in Mitteleuropa) sowie den Titel „Die verratene Armee“ (über die Abwicklung der NVA).
Die These beider in dem neuen Buch lautet: „Nach Jahren der außenpolitischen Marginalisierung und der inneren Instabilität meldet sich Rußland als machtbewußter Akteur auf der globalen politischen Bühne zurück. In Reaktion auf die Ostausdehnung der NATO und den massiven Einsatz militärischer Mittel durch die USA setzt das Land wieder auf eine Politik der Stärke und Abschreckung. Die Moskauer Führungselite betreibt forciert eine Konsolidierung der Machtbasis des Staates, um die Einflußmöglichen und geopolitischen Handlungsoptionen der NATO begrenzen zu können. Kern dieser Bemühungen sind eine ambitionierte Militärreform, die Modernisierung der Rüstungsindustrie, die Profilierung als potente Schutz- und Ordnungsmacht im GUS-Raum und die Schaffung neuer wirtschaftspolitischer und militärpolitischer Allianzen.“
Noch besteht Nachholbedarf. Der hatte in den 90er Jahren ein solches Ausmaß angenommen, daß man in Washington und Brüssel zeitweise kaum noch mit einem militärischen Machtfaktor Rußland glaubte rechnen zu müssen. Militärtechnisch fiel das Land, Expertenurteilen zufolge, zeitweise um bis zu 15 Jahre hinter die USA zurück. Viele Logistikeinrichtungen und Kampftechnik in beträchtlichen Größenordnungen waren im Besitz anderer GUS-Staaten verblieben. Selbst nach der Ablösung des korrupten Jelzin-Clans flossen die finanziellen Mittel für eine Modernisierung nur spärlich.
Jedoch das Agieren des Westens im zerfallenden Jugoslawien, der zweite Irakkrieg und das schrittweise Vordringen der NATO an die Grenzen Rußlands bewirkten ein erstes Umdenken. Es dauerte noch bis zum Wiedereintritt Putins ins Präsidentenamt im Jahr 2012, ehe die politische Führung entschlossener daranging, neue verteidigungspolitische Fakten zu schaffen und Kurs auf eine Renaissance früherer militärischer Schlagkraft zu nehmen. Das betrifft nicht nur die Pflege der verbliebenen Militärbeziehungen und Militärstützpunkte – von Kirgisien über Armenien, Syrien, Transnistrien und Belarus bis zum im jetzt unabhängigen Kasachstan gepachteten Stützpunkt Baikonur – Rußlands Tor zum Weltraum.
Die Willensbildung durchzieht inzwischen den gesamten militärisch-industriellen Komplex – Personalwechsel im Verteidigungsministerium inbegriffen.
Waffentechnisch befindet sich die russische Armee in einem Umrüstungsprozeß, den die Staatskasse bis zum Jahr 2020 mit umgerechnet 471 Milliarden Euro finanzieren soll. Auf dem Rüstungsprogramm stehen neue Präzisionswaffen, Tarnkappenbomber, superleichte Abfangjäger, Marine-Hubschrauberträger, Drohnen und vieles andere, eingeschlossen die Modernisierung des Atomwaffenarsenals. Ein neues System der Luft- und Raumverteidigung und die Fähigkeit zum Gegenschlag degradiere „mittlerweile den geplanten US-Raketenabwehrschild in Europa zu einer Fehlinvestition“, schreiben Rudolph und Markus. Auch neue militärische Kooperationen rückten ins Blickfeld, so mit China und einigen zentralasiatischen Republiken.
Die Frage, ob sich durch die russische Militärreform das Risiko neuer internationaler militärischer Konfrontationen erhöht, wird von ihnen verneint: Rußland sei „wieder eine ernstzunehmende Macht auf der internationalen Bühne. Daraus ein neues Bedrohungsszenario abzuleiten, wäre sicherlich falsch. Der Westen muß akzeptieren, daß Rußland nach einer Phase der Schwäche jetzt wieder in der ersten Liga weltpolitisch mitspielt und seine Interessen durchzusetzen versucht. Auf jeden Fall ist diese interessengeleitete Politik rational und damit berechenbar. Darin liegen auch für den Westen Chancen.“
Im Mai wurde die Gründung einer Eurasischen Union Rußlands mit Belarus und Kasachstan, für die es bereits weitere Anwärter gibt, gemeldet.
Ralf Rudolph / Uwe Markus:
Renaissance einer Weltmacht
Rußlands Militärreform und exterritoriale Militärstützpunkte
Phalanx, Berlin 2013, 338 Seiten
19,20 €
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