Gegen kurzgeschlossene „Argumente“
zum Thema Arbeitsproduktivität
Replik eines Generaldirektors
Im „RotFuchs“ Nr. 196 erschien ein „Pro und Kontra“ überschriebener Artikel, den ich so nicht unwidersprochen lassen möchte. Die dort vertretene Auffassung, „die völlig unterentwickelte Interessiertheit der Betriebs- und Kombinatsleitungen, von sich aus höchste Leistungsangebote zur Erarbeitung und Untersetzung ‚optimaler‘ Planzielstellungen vorzulegen“, unterscheidet sich kaum von entsprechenden Behauptungen bestimmter Presseorgane dieses Landes. Der als Politikwissenschaftler posierende Prof. Arnulf Baring schrieb bereits 1991: „Das Regime (gemeint ist die DDR – A. E.) hat fast ein halbes Jahrhundert die Menschen verzwergt, ihre Erziehung, ihre Ausbildung verhunzt … Ob sich heute dort einer Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Psychologe, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig egal; sein Wissen ist auf weiten Strecken unbrauchbar.“
Einer von jenen, welche hier gemeint sind, bin ich. Mein Weg war folgender: 30 Jahre Arbeit im Chemiekombinat Bitterfeld, Schlosser im Bereich Meß- und Regelungstechnik, Diplom-Ingenieur für chemische Verfahrenstechnik, nach sozialwissenschaftlichem Zusatzstudium an der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg und Studium an der Parteihochschule „Karl Marx“ Promotion zum Dr. oec. Von 1984 bis 1990 war ich durch die Regierung der DDR berufener Generaldirektor des Chemiekombinats Bitterfeld (CKB).
In meiner beruflichen Entwicklung vermochte ich genügend Sachverstand zu erwerben, um mir ein Urteil zu der Problematik erlauben zu können. Meine Vorgänger und auch ich waren so „unterentwickelt interessiert“ an hohen Leistungsangeboten, daß der Stammbetrieb des Kombinats von 1970 bis 1990 jährliche Steigerungsraten der industriellen Warenproduktion von etwa vier Prozent und eine analoge Größenordnung für die Produktivitätsentwicklung abrechnen konnte. Mit den bei uns tätigen Menschen deckten wir planmäßig den volkswirtschaftlichen Bedarf an 4000 hochwertigen Chemieprodukten und Grundchemikalien ab. Dabei ging es nicht darum, Gewinn um jeden Preis zu erzielen. Das Wort Profit war uns fremd. Mit seinen Produkten hat das CKB ein Warenproduktionsvolumen von etwa 60 Milliarden Mark der DDR bereitgestellt und die Volkswirtschaft der Republik entsprechend beeinflußt.
1989 erzielte der Stammbetrieb des Kombinats eine Steigerung der Arbeitsproduktivität, die 265 600 TM entsprach. Unter Berücksichtigung der Rang- und Reihenfolge der Produktivität der einzelnen Kombinatsbetriebe war das aber „nur“ der dritte Platz.
Eine derart mechanistische Betrachtungsweise wie sie Christa Luft aus Lenins Arbeit „Die große Initiative“ im RF 194 abgeleitet hat, führt m. E. in die Irre und zu unberechtigter Kritik am Wirtschaftswachstum als einer angeblichen Ursache für die Vereinnahmung der DDR-Ökonomie durch das Monopolkapital ab 1990.
Nach fast völliger Zerstörung, „Rückbau“ und dem dritten Verkauf des restlichen Territoriums zur Befriedigung der Aktienanteilsbesitzer von IG Farben sowie zur Beseitigung jeglicher Konkurrenz ist das einst leistungsmäßig vierte Kombinat der DDR-Chemieindustrie heute in keinem Firmenranking mehr zu finden. Was für ein Verlust an Lebensqualität wurde den in der Region verbliebenen Menschen zugefügt!
Lenin traf zwar die Feststellung, auf die sich Christa Luft bezieht, wußte aber zugleich, daß dies kein kurzer Weg sein würde. Er schrieb: „Der Kapitalismus kann endgültig besiegt werden und wird dadurch endgültig besiegt werden, daß der Sozialismus eine neue, weit höhere Arbeitsproduktivität schafft. Das ist ein sehr schwieriges und sehr langwieriges Werk, aber man hat damit begonnen, und das eben ist das Allerwichtigste.“
Im 1918 geschriebenen ursprünglichen Entwurf des Artikels „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“ nennt Lenin die Voraussetzungen zur Hebung der Arbeitsproduktivität. Vor allem gehe es um die Sicherung der materiellen Grundlagen der Großindustrie durch Entwicklung der Produktion von Brennstoffen und Eisen, Entwicklung des Maschinenbaus und der chemischen Industrie, Erhöhung des Bildungs- und Kulturniveaus der Masse der Bevölkerung, bewußte Mitarbeit der Belegschaften sowie die Hebung der Disziplin der Werktätigen, ihres produktiven Könnens.
Diesen Weg hat auch die DDR unter schwierigsten Bedingungen, welche der Krieg hinterlassen hatte, gehen müssen. Zu den gegen sie eingesetzten ökonomischen Instrumentarien gehörte das Embargo, über dessen Wirkungen Prof. Abelshauser (Bielefeld) in seiner „Deutschen Wirtschaftsgeschichte seit 1945“ schreibt: „… Diese Umorientierung war aber auch nicht zuletzt den Beschränkungen des West-Ost-Handels für ‚strategische Güter‘ geschuldet, wie sie die Embargo-Praxis des im November 1949 installierten COCOM – der wohl schärfsten und langfristig wirksamsten Waffe des Marshallplanes auf dem wirtschaftlichen Schauplatz des Kalten Krieges – seit 1950 vorsah. Diese gingen weit über das Verbot des Handels mit Rüstungsgütern hinaus und zwangen die Länder des Ostblocks, ihren schon aus ideologischen Überlegungen tendenziell autarkischen Wiederaufbau und Entwicklungskurs noch weiter zu intensivieren.“
Dennoch hat die DDR insgesamt 750 Industrieobjekte, darunter modernste Anlagen für die Chemieindustrie im Wert von 12 Mrd. Valuta-Mark, davon 1 Mrd. für Bitterfeld, im Ausland erworben, um auf der Basis von Erdöl und Erdgas der Volkswirtschaft moderne Chemieprodukte zur Verfügung stellen zu können. Ein formaler Vergleich der Arbeitsproduktivität zwischen den Unternehmen und Konzernen findet übrigens seit einiger Zeit nicht mehr statt, weil die Kennziffer Arbeitsproduktivität wichtige Charakteristika der Produktionsprozesse, die Einfluß auf ihre Größe haben, nicht erfaßt. Man verwendet heute die auf Umsatzrendite bezogenen Kennziffern EBIT-Marge u. a. Danach schneidet unser Kombinat für die Zeit seiner Existenz (1970–1985) nachweislich sehr gut ab.
Für den Vergleich von Volkswirtschaften untereinander bedient man sich inzwischen beim Leistungsranking des Kaufkraftvergleichs bzw. des Brutto-inlandprodukts.
Die diesbezüglichen Leistungen der DDR hat Prof. Wenzel in seinem Buch „Was war die DDR wert?“ exakt beschrieben. Demnach hatte sie ein Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner von 16 796 DM erarbeitet. Legt man den 1987 ausgewiesenen Umrechnungssatz 1 Ecu der damals gültigen europäischen Währungseinheit zur DM (2,07) zugrunde, dann gelangt man für 1988 zu einer Bruttoinlandsproduktgröße pro Kopf der DDR-Bevölkerung von 8114,32 Ecu. „Im Rahmen der 1988 zur EG gehörenden Länder wäre dies der neunte Platz.“
Eine nachträgliche oder nachtragende Schelte für unsere Anstrengungen zur Gestaltung einer von Ausbeutung befreiten Gesellschaft, in der jeder einen garantierten Arbeitsplatz hatte und nach seiner Leistung entlohnt wurde, halte ich nicht für gerechtfertigt. Eine ehrliche Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung – sachlich, kritisch, objektiv und werturteilsfrei sowie ohne Personenkult – scheint mir aber durchaus zweckmäßig zu sein.
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