Heinrich Vogelers Weg vom gefeierten Jugendstil-Maler
zum Revolutionär
Respekt vor einem Lebens-Wandel
In Worpswede nahe Bremen befindet sich eine sehenswerte Kultur- und Bildungsstätte. Tausende von Besuchern pilgern alljährlich zu der ehemaligen Künstlerkolonie, wo sozialkritische Intellektuelle einst ihre Ideen für eine bessere Gesellschaft nicht nur in Bildwerke, sondern auch in praktizierte Lebensentwürfe umsetzten. Im Mittelpunkt dieses Kreises stand der 1872 als Sohn eines Großhändlers geborene Heinrich Vogeler. Mit seinen Malereien und Buchgestaltungen, später auch Architektur- und Design-Projekten war er ein Liebling des kulturbeflissenen Bürgertums. Doch nachdem er die Gräuel des Krieges und die Not in den Arbeiterfamilien gesehen hatte, gab Vogeler seinem Leben und Schaffen eine Wendung. Er widmete sich fortan konsequent der sozialistischen Sache, war Mitbegründer der Roten Hilfe und setzte ab 1931 seine schöpferische Kraft für die Sowjetunion ein. Unter tragischen Umständen starb er 1942 in den Wirren der nach dem faschistischen Überfall befohlenen gewaltsamen Umsiedlung von Sowjetbürgern deutscher Nationalität nach Kasachstan.
In Worpswede sind Werke Heinrich Vogelers aufbewahrt, wobei die Arbeiten aus seiner „bürgerlichen“ Schaffensperiode den Schwerpunkt bilden. Für jene Besucher, welche mehr über ihn als Kämpfer für den Sozialismus erfahren wollen, kann Worpswede eine Anregung zum Weiterfragen und -forschen sein.
Viele Gäste der Künstlerkolonie stehen sichtlich ergriffen vor dem großformatigen Tafelbild „Sommerabend“, das Heinrich Vogeler 1905 geschaffen hat und mit dem er seine Frau Martha, die Künstlerfreunde und sich selbst vor dem Portal des Barkenhoffs darstellt. Der Maler hatte sich das Haus mit Garten zum Domizil erwählt und darin seine anspruchsvollen Ideen von einer inspirierenden Umgebung zum Arbeiten und Wohnen verwirklicht. Die Kunstliebhaber wandern weiter zu den meisterlichen Buchillustrationen, und sie sehen bewundernd bis begehrlich auf Vogelers Kreationen von Speiseservices, Eßbestecken und Raumdekor. Denn Bilder und Gegenstände im sogenannten Jugendstil werden bis heute von vielen sehr geschätzt.
Zu ihrer Entstehungszeit am Beginn des 20. Jahrhunderts drückten sie einen neuen, ganzheitlichen Gestaltungswillen aus. Das Industriezeitalter war nach dem Gründerboom vollends und hektisch über Deutschland hereingebrochen – da schien das fortgesetzte Schwelgen in Klassizistik über Barock bis Romantik unzeitgemäß zu sein.
Die Kunst steckte in einer Krise. Von den „Neureichs“, jenen durch französische Reparationsmilliarden von Klein- zu Großbürgern aufgestiegenen Emporkömmlingen, und all den Liebhabern protzigen Zierrats wollten sich die Gebildeten absetzen. So nahmen sie den Jugendstil an. Heinrich Vogeler gehörte zur Avantgarde der Kunstschaffenden, die das Entfremdende, Überfordernde in der industriekapitalistischen Lebenswelt spürten. Seine Antwort waren zunächst Abkehr und Verweigerung. Maßvoll komponierte Linien und Farbklänge lassen eine entrückte Traumwelt aufscheinen, Vogelers Werke feiern die Zartheit der Blumen und junger Frauen, den Zauber unberührter Landschaft und alter Legenden. Melancholie und Sehnsucht atmen jede dieser Arbeiten. Und die kunstsinnigen Kenner, Gönner und Mäzene überhäufen Vogeler mit Preisen und Auszeichnungen.
Doch dem Kriegsteilnehmer wurden die Erlebnisse an den Fronten zum tiefen Einschnitt in seinem Fühlen, Denken und Schaffen. Und angesichts des Elends der arbeitenden Menschen erkannte er: Die Proletarierfamilien leiden am Industriekapitalismus nicht wegen eines fein empfundenen ästhetischen Unbehagens, sondern existentiell; das gesamte System mit seinem hochkultivierten geistigen Überbau beruht auf Ausplünderung und Entrechtung der Arbeiter!
Die Konsequenz des Humanisten Heinrich Vogeler war radikal. Das Jugendstil-Œuvre überließ er seiner Frau. Die Eheleute trennten sich, auch deshalb, weil Martha der ideologischen Entwicklung ihres Mannes nicht folgte. Heutige Besucher der einstigen Künstlerkolonie sehen die an sie übereignete Sammlung im „Haus am Schluh“. Fortan thematisieren Heinrich Vogelers Bildwerke die Wirklichkeit. Sie rütteln in harter, eindringlicher Formsprache den Betrachter auf. Doch der Vogeler, dessen Schaffen von Beginn an auf die Ganzheit von Kunst und Leben gerichtet war, beließ es nicht beim Malen. 1918, während der Novemberrevolution, wirkte er im Arbeiter- und Soldatenrat Osterholz mit. Dafür verfolgte und inhaftierte ihn die Reaktion nach der Niederschlagung der Bremer Räterepublik. Im März 1919 nach Worpswede zurückgekehrt, machte Vogeler den Barkenhoff, sein einstiges Refugium, zu einem Zentrum der Solidarität, der marxistischen Bildung und der revolutionären Lebenspraxis. Die Kinder der Kommune Barkenhoff genossen eine nach fortschrittlichsten Kriterien organisierte Erziehung. Bis 1932 führte die Rote Hilfe Deutschlands die pädagogische Einrichtung als Kinderheim weiter.
Eine Reise Heinrich Vogelers in die Sowjetunion hatte ihm Inspiration und Erkenntnisgewinn gebracht. Heimgekehrt, malte er ab 1920 die Diele des Barkenhoffs mit Fresken aus – geeignet, die heutigen Besucher dieser Stätte abrupt aus jugendstilhafter Seligkeit zu reißen: parteilich-engagierte Wandmalereien zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Als diese 1921 von reaktionären Bilderstürmern zum ersten Mal bedroht wurden, verhinderten weltbekannte Künstler wie Diego Riviera und Frida Kahlo, Lion Feuchtwanger, Hermann Hesse, Käthe Kollwitz, Thomas Mann, Max Pechstein und Kurt Tucholsky den Amoklauf der Kulturbarbaren durch ihren Protest. Vogeler war inzwischen Teil des Netzwerkes führender revolutionärer Köpfe. Klara Zetkin, Erich Weinert, Julian Marchlewski und dessen Tochter Sonja, die Vogelers Frau wurde, gehörten dazu.
Hart und beständig rang der Maler um seinen politischen Standort, wobei er unausbleiblichen Konflikten inmitten teils irrtumsbeladener, in jedem Falle aber schmerzhafter ideologischer Auseinandersetzungen in Führungskreisen der kommunistisch-sozialistischen Bewegung nicht auswich.
Die Reise, die Vogeler 1931 in die Sowjetunion unternahm, sollte seine letzte sein; die Heimkehr blieb ihm nach Hitlers Machtantritt im Januar 1933 verwehrt. Aufrüttelnde Bilder gegen den faschistischen Terror entstanden, aber auch Porträts selbstbewußter Eigentümer der Produktionsmittel: Kolchosbauern, Baumwollpflückerinnen, Stahlarbeiter. Die letzten dieser Arbeiten schuf Vogeler im kasachischen Verschickungsort.
Die tragischen Umstände seines Todes aus Entkräftung waren jahrzehntelang ein vermeintlicher Grund, die Verdienste dieses Ausnahmekünstlers um das geistig-kulturelle Erbe der Arbeiterklasse nur mit Vorsicht zu erwähnen. Es ist hohe Zeit, seine Leistungen und seinen Bekennermut gebührend zu würdigen.
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