Zur Rolle der Persönlichkeit im proletarischen Klassenkampf
Revolutionen brauchen Köpfe
Der Wechsel von Gesellschaftsformationen ist eine gigantische Aufgabe und erfordert geschichtliche Zeiträume, welche die Lebensdauer nur einer Generation bei weitem übersteigen. Dies ist seit den Tagen von Marx und Engels bekannt, allerdings wollen es manche so nicht wahrhaben. Es gab bekanntlich Staatsmänner und Parteiführer sozialistischer Länder, die offiziell verkündeten, selbst noch im Kommunismus leben zu wollen. Die Bourgeoisie benötigte Jahrhunderte zur Überwindung des Feudalismus, wobei noch heute Reste von ihm fortbestehen. Die Vorstellung, den Kapitalismus voluntaristisch „wegblasen“ zu können und den Sozialismus „auf die schnelle“ aus dem Boden zu stampfen, ist absolut unhistorisch.
In einem Briefwechsel mit Klaus Steiniger stellte Nico Jühe, Student der Philosophie und Mathematik in Wuppertal, bezogen auf Gorbatschow und seinesgleichen die rhetorische Frage: Welche Stärke besitzt eigentlich ein System, bei dem ein kleines Quantum Abtrünniger und Verräter ausreicht, um es zu Fall zu bringen? Seit dem Untergang der sozialistischen Staaten Europas beschäftigt diese Frage nicht wenige Menschen.
Von Beginn an galt die führende Rolle einer marxistischen Partei als Grundvoraussetzung für den Aufbau einer alternativen Gesellschaft zum Kapitalismus. Die Notwendigkeit einer fähigen eigenen Führung ergibt sich nicht zuletzt aus dem hohen Organisierungsgrad des sozialen Gegners und der Härte des Klassenkampfes, der letztlich auf Leben und Tod geführt wird. Wenn eine starke und zielklare Organisation mit einer entsprechenden Spitze fehlt, gelangen revolutionäre Bewegungen nicht über eine Rebellion hinaus. Der Erfolg bleibt aus. Darin besteht gegenwärtig die Tragik der grandiosen Volksbewegungen in Ägypten, der Türkei, Brasilien und anderen Regionen, wo sich objektiv revolutionäre Situationen herausgebildet haben, die sich aber derzeit subjektiv nicht für eine fundamentale Veränderung der Macht- und Eigentumsverhältnisse nutzen lassen. Siege und Niederlagen jener Staaten, welche sich auf dem Weg zu einer sozialistischen Gesellschaft befanden, müssen daher stets auch unter dem Aspekt der Stärken und Schwächen ihrer marxistischen Parteien betrachtet werden. Dabei geht es weniger um einzelne Fehlentscheidungen auf ökonomischem Gebiet, sondern vor allem um deren Kapazität zur Motivierung, Mobilisierung und maximalen Einbeziehung aller in Betracht kommenden Teile der Bevölkerung.
Nicht die Zahl ihrer Mitglieder bestimmt in erster Linie die Stärke einer marxistischen Partei, sondern deren Zielklarheit und Organisationsgrad sowie die Qualität ihrer Führung. 1917 folgten Millionen der zahlenmäßig kleinen bolschewistischen Partei – sie zählte zum Zeitpunkt der Oktoberrevolution etwa 40 000 Mitglieder –, weil sie eine durchdachte Strategie zur Lösung der Widersprüche und Probleme besaß. 1990 scheiterten die staatstragenden Parteien aller sozialistischen Länder Europas, obwohl ihnen nominell Millionen Mitglieder angehörten.
Am Beispiel Lenins wurde die bedeutende, ja geradezu entscheidende Rolle klar, die einer Führungspersönlichkeit zukommt oder einer Gruppe von Führern zukommen, welche den Kurs maßgeblich bestimmen und die strategische Generallinie taktisch klug umsetzen müssen. Das gilt besonders in Krisensituationen. Auch das seinerzeitige Überleben des plötzlich völlig isolierten Kuba und dessen heutige Ausstrahlung hängen entscheidend damit zusammen, daß Fidel Castro als prägender Teil eines Kollektivs über solche Fähigkeiten verfügte. Gleiches traf natürlich auch auf Mao Tse-tung und Ho Chi Minh zu. Erinnert sei hier an das Charisma des Venezolaners Hugo Chávez.
Solche Persönlichkeiten an der Spitze revolutionärer Kräfte sind unverzichtbar, weil der Mensch ein soziales Wesen ist, das sich mit seiner Individualität in die Gesellschaft einbringen und sie bereichern kann, allein aber kaum existenzfähig ist.
Wirkliche Führer zeichnen sich nicht zuletzt durch ein hohes Maß an Selbstlosigkeit und Bescheidenheit in persönlichen Dingen aus. Sie können eine starke Basis schaffen, die etwas bewegt. Mit ihrer Ausstrahlung hängt zweifellos auch die Schwierigkeit zusammen, jüngere Nachfolger oder ganze Kollektive zu entwickeln, die dazu imstande sind, die Arbeit nahtlos fortzusetzen. Nicht immer kann ein Verlust ausgeglichen und ein entstehendes Vakuum gefüllt werden. Die sozialistischen und kommunistischen Parteien haben viele führende Persönlichkeiten hervorgebracht, die Großartiges leisteten und leisten. Doch nicht alle vermochten den hohen Ansprüchen gerecht zu werden. Etliche erlagen menschlichen Schwächen und der Verlockung, Einfluß oder Macht in einer der Sache abträglichen Weise zu mißbrauchen.
Lenin hatte die Arbeiter und Bauern Rußlands gelehrt, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Das bleibt sein größtes Vermächtnis. Es wurde auch für andere unterdrückte Völker zu Kompaß und Richtschnur. Immer dann, wenn es gelang, die Kreativität und Mitwirkung der Volkskräfte zu mobilisieren, haben Menschen Unglaubliches geleistet. Das faschistische Deutschland konnte nur besiegt werden – und ähnliches erfuhren die US-Aggressoren in Vietnam –, weil sie einem Volk gegenüberstanden, das seine ureigensten Interessen verteidigte.
Nicht weniger zählen Leistungen im Alltag des friedlichen Lebens, beim Aufbau einer menschenwürdigen Gesellschaft. Auch hier gab es Leiter, die es vermochten, die unterschiedlichen Potenzen der einzelnen Menschen für ein gemeinsames Ziel zu mobilisieren, und solche, die dabei versagten. Das Kaliber der Persönlichkeit fiel auf sämtlichen Leitungsebenen entscheidend ins Gewicht.
Kultur und Bildung hatten in den sozialistischen Staaten einen besonders hohen Stellenwert. Einfache Menschen erwarben Wissen zum Nutzen der ganzen Gesellschaft. Lenins besonders an die Jugend gerichteter Appell: „Lernen, lernen und nochmals lernen!“ hat nicht nur in der UdSSR, sondern in sämtlichen sozialistischen Ländern reiche Früchte getragen. In der DDR sicherte die 10klassige polytechnische Oberschule eine allseitige Grundausbildung, zu der auch eine emotionelle Komponente gehörte. Ständige Weiterbildung und Qualifizierung wurden für Millionen zum Lebensprinzip. Nicht wenige von ihnen motivierte das dazu, sich, ohne nach persönlichen Vorteilen zu schielen, mit ganzer Kraft für die Entwicklung ihres sozialistischen Staates einzusetzen. Zu ihnen zählten auch viele Mitglieder der SED. Das widerspricht der heute durch Medien und Politiker der Bourgeoisie verbreiteten Unterstellung, die meisten Genossen seien allein aus Karrieregründen in die Partei eingetreten. Leider war deren Zahl angesichts der Verwandlung der Vorhutpartei in eine Massenorganisation ebenfalls nicht gering.
Eine machtausübende, damit auch für die Besetzung der Posten und das Drucken des Geldes zuständige Partei ist von vornherein für viele attraktiv. Das nicht hinreichend beachtet zu haben, gehört zu den Hauptversäumnissen der SED, die in ihrer bewegten Geschichte wichtige Führer der Klasse und auch solche anderer Art hervorgebracht hat.
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