Rudi Kurz:
Hamlet (Folge 3 und Schluß)
Rudi Kurz
Der große Saal füllte sich rasch mit weit mehr als tausend deutschen Kriegsgefangenen. Kopf an Kopf drängten sie sich auf den selbstgefertigten rauhen Holzbänken.
Punkt 15 Uhr verstummte das Gemurmel, als der sowjetische Lagerkommandant, ein älterer Oberstleutnant, das linke Bein leicht nachziehend, in Parademontur mit vielen Orden und Ehrenzeichen geschmückt, den Raum betrat. Alle standen auf. Wir sahen diesen Mann, der unmittelbar für uns alle verantwortlich war, zum ersten Mal.
Begleitet war er von einer ganzen Kavalkade von Offizieren und zum Teil auch weiblichen uniformierten Mitarbeitern. Alle nahmen in der mit Stühlen bestückten ersten Reihe Platz. Gespannte Stille in dem Riesenraum.
Durch den stilisierten Vorhang trat Alwin Schock, sah einen Augenblick fast erschrocken in den vollen Saal und sprach dann langsam und mit sehr deutlicher innerer Anteilnahme das Gedicht von Erich Weinert über Ernst Thälmann „Hoch die Faust!“ Der erste Beifall war noch verhalten. Dann folgte unser kleiner Chor mit den beiden Liedern „Dem Morgenrot entgegen“ und „Kalinka“ in Russisch. Im Saal machte sich schon eine leichte Lockerheit breit. Dann sprach Walter Flagge zum ersten Mal über den Tag der Befreiung und gratulierte der Sowjetunion zum Sieg über den Faschismus. Er streifte dann einige Minuten die Weltlage und die ersten politischen Spannungen zwischen den USA und der Sowjetunion. Hinter der Bühne bekamen wir wenig davon mit, da wir unter dem hohen Druck des Lampenfiebers standen und unruhig wie Pferde vor dem Start auf unseren Auftritt warteten. Martin Ritzmann hörte ich noch, der auf Russisch die Arie sang: „Wohin, wohin bist du entschwunden?“ (aus Tschaikowskis „Eugen Onegin“). Das war schon etwas, was die Leute da unten anging. Heftiger Applaus und erste Rufe.
Dann erläuterte Hermann mit kurzen, aber prägnanten Worten die Geschichte des Hamlet und die bedauerlichen Einschränkungen unserer Darbietung. Neugierde und angespannte Stille.
Dann trat Rainer Blum auf, schon in Maske und Kostüm von Hamlets Freund Horatio. Rainer war der erfahrenste Schauspieler von uns allen. Und der beste. Ruhig und fast gelassen blickte er in den weiten Raum, wartete einige Sekunden und begann dann langsam, fast nachdenklich mit den weltbekannten Worten: „Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage …“ Wir standen hinter dem Vorhang, schon bereit zu unserem eigenen Auftritt.
Nie in meinem ganzen Leben hörte ich diese Worte besser, eindringlicher und wahrhaftiger als jetzt. Wir spürten, daß Rainer alle, die unten saßen, im emotionalen Griff hatte.
Die Spannung löste sich, und wir wußten, es konnte nichts mehr schiefgehen.
Rainer endete mit der Anklage: „… so macht das Gewissen Feige aus uns allen.“
Bevor Beifall einsetzen konnte, öffnete sich der Vorhang zur Friedhofsszene. Zwei Totengräber schaufelten ein Grab und machten bittere Witze über die alten, gebleichten Gebeine, die sie nach oben warfen. Erste Lacher im Publikum.
Da trete ich mit Horatio auf, und bevor die Unterhaltung mit den beiden Arbeitern ins skurril Makabre abgleitet, soll ich den nach oben geförderten Schädel aufheben, und in ihm den Kopf des Narren erkennen, der stets den Königshof zu unterhalten hatte. Gedankenvoll wiege ich den blanken Schädel in meiner Hand: „Armer Yorick – wo ist jetzt dein Witz, wo sind deine Schwänke und Lieder, deine Sprünge und Tänze …?“
Bei den letzten Worten sollte ich den Schädel in meiner Hand leicht tanzen lassen – und da passierte es. Der Kopf des toten Narren fiel mir aus der Hand über die aufgeworfene Erde, rutschte über den Rand der Bühne und rollte ungebremst bis zur ersten Reihe fast vor die Füße des Oberleutnants, unseres Lagerchefs. Einige erschrockene Laute aus den Reihen, dann Totenstille. Mit einer hilflosen Geste stand ich reglos am Bühnenrand und starrte nach unten.
Ich war nicht fähig zu reagieren. Wie auch?!
Tausend Gedanken jagten mir durch den Kopf. War das Leichtsinn, bitterer Hohn oder gar Provokation? Was folgte jetzt nach dieser Blamage für uns alle? Unverzeihlich meine Schuld und mein Versagen. Während ich noch wie gelähmt stand, wollte einer der Offiziere den Schädel aufnehmen, doch mit einer Geste hinderte ihn der Chef. Er bückte sich, nahm den Schädel vorsichtig auf, wog ihn in der Hand und betrachtete ihn einen Augenblick sinnend und sagte wie fragend: „War er ein Soldat?“ Deutsch oder Russisch? Dann ging er langsam die zwei Schritte zur Bühne, reichte ihn mir nach oben und meinte mahnend: „Osteroshno, Gamlet, on byl tschelowek!“ (Vorsicht, Hamlet, er war ein Mensch!) Ich flüsterte verlegen: „Spasibo, gospodin kommandant. Iswinitije, poschalista.“ (Vielen Dank, Herr Kommandant. Entschuldigen Sie bitte!) Mit einem winzigen Anflug von verzeihendem Lächeln sagte der Mann, der vom Alter her mein Vater hätte sein können: „Igraj dalsche, Gamlet!“ (Spiel weiter, Hamlet!) Damit setzte er sich wieder.
Ich weiß heute nicht mehr, mit welchen Empfindungen wir die Vorstellung zu Ende spielten. Der heiße Wunsch, die sträfliche Panne wiedergutzumachen, beflügelte uns, und wir spielten uns die Seele aus dem Leib.
Auf der kleinen Bühne wurde geliebt und gehaßt, wurden Intrigen gesponnen, wurde gefochten, sich gegenseitig vergiftet, betrogen und erstochen, bis das Blut floß und der Boden nur noch von Leichen bedeckt war.
Trotz der hohen Konzentration, die mein Spiel erforderte, drängte sich mir plötzlich im Unterbewußtsein der Gedanke auf, ob es nicht Wahnsinn sei, was wir hier taten. Hatten wir nicht gerade Jahre von Blut und Haß, von Zerstörung und Mord hinter uns? War der Schädel, der Totenkopf an Mütze und Uniform, nicht Symbol einer mörderischen SS? Mußten wir uns für einen solchen Irrwitz wie diese Aufführung hergeben?
Urplötzlich traf mich der Gedanke, daß es auch mich selbst betraf, das kleine Rädchen im mörderischen Räderwerk. Uns alle, die wir hier waren, auf der Bühne, und unsere unten sitzenden Landser, die der Handlung atemlos folgten, wie wir es nie erwarteten. Zur Schuld gehört die Sühne.
Möglich, daß bei dem einen oder anderen ein ähnlicher Gedankengang einsetzte wie bei mir, der ich tödlich verletzt auf dem Bühnenboden lag und Hamlets letzte Worte aushauchte: „Der Rest ist Schweigen.“
Es war lange still. Dann setzte zögernder Beifall ein. Verhalten, aber doch – wie wir empfanden – respektvoll und nachdenklich. Die Wirkung war, auch noch nach Tagen nachhaltiger, als wir hoffen durften.
Der Weg von Shakespeares „Hamlet“ bis zu Gorkis „Ein Mensch, wie stolz das klingt“ und zu Majakowskis „Oktoberpoem“ war weit und beschwerlich. Für manche dauert er bis heute. Der Tag der Befreiung am 8. Mai gehörte zum politischen Feiertagsstandard in unserem Land, der DDR. In der Bundesrepublik war er von Anfang an der Tag der Kapitulation, der Schande und der Niederlage. Es dauerte Jahrzehnte, bis die Wahrheit und die politische Einsicht zu des Präsidenten Richard von Weizsäckers öffentlich geäußertem Diktum führte: „Der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“
Um so mehr ist aber die folgende Tatsache nicht nur tief bedauerlich, sondern auch außerordentlich beschämend: Die Einladung der russischen Regierung zur Feier des 70. Jahrestages des Sieges über Nazideutschland wurde von der deutschen Bundeskanzlerin brüsk abgelehnt. Ein Affront, der allen diplomatischen Gepflogenheiten Hohn spricht und für viele Deutsche lange Zeit ein unehrenhafter Eklat sein wird.
Daß unsere Theateraufführung damals eine gewisse Nachhaltigkeit hatte, merkte ich daran, daß ich noch lange, wo ich auch auftauchte im Lager, mit freundlicher Ironie „Gamlet“ gerufen wurde.
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