Rudi Kurz:
Hamlet im Mai (Teil 1)
Rudi Kurz
Die Traumrolle für alle Schauspieler der Welt ist und bleibt der Hamlet. Das Nonplusultra der Theaterliteratur. Jeder studiert ihn, wenige dürfen ihn spielen. Auch in meinem überlangen Theater-, Film- und Fernsehleben ist er an mir vorbeigegangen. Aber Berührung hatte ich wenigstens mit ihm. Und dies nicht ohne Nachbeben.
Es war Anfang Mai des Jahres 1932, kurz vor meinem 11. Geburtstag. Ich drückte mir die Nase platt am Schaufenster des kleinen Bücherladens auf dem Weg zur Schule. Seit vielen Tagen. Jeden Morgen.
Nur durch die Scheibe getrennt stand dort, zwischen einer Reihe von Buchauslagen, das Ziel meines heißen Wunsches: eine kleine bunte Kugel. Ein Globus! Die Erde, wie ich sie bis dahin nicht kannte. Drehbar auf einer schief geneigten Erdachse und in kurzen Intervallen durch ein kleines Lämpchen von innen erhellt. Hell-dunkel-hell-dunkel, genau wie der Herzschlag meines Verlangens. Auf dem kleinen Preisschild stand 8,90 Mark. Unerfüllbar mein Wunsch. Zuviel Geld! Ich konnte auch mit niemandem darüber reden. Es war mein Geheimnis.
Die Zeiten waren hart und bitter. Nach Krieg, Weltwirtschaftskrise und Inflation mit fast 8 Millionen Arbeitslosen regierten Hungersnot und Wohnungsarmut in Deutschland. Zwei Dutzend Parteien kämpften erbittert um das Vertrauen der Wähler und um die Macht im Staat.
Vorgestern, mitten in der Nacht, kam mein Vater nach Hause. Blutüberströmt, Wunden an Stirn, Hals und Armen. Mit einer Gruppe von Arbeitern und gleichgesinnten Kollegen aus dem Betrieb der I.G. Farben in Ludwigshafen war er nach Mannheim in den Rosengarten, den größten Versammlungssaal der Umgebung gepilgert. Ernst Thälmann sprach. Jubelnde Zustimmung und Beifall von fast 2000 Teilnehmern. Auf dem Heimweg wurde laut und begeistert die „Internationale“ gesungen.
Als sie zur Rheinbrücke kamen, wurden sie aus der nächtlichen Dunkelheit heraus von bewaffneten SA-Horden aus Mannheim und Ludwigshafen überfallen und blutiggeprügelt. Papa sah schlimm aus. Mama schrie auf, und wir Kinder weinten. Prügel, Messerstechereien bis zu Mord und Totschlag waren damals politischer Alltag.
Abend für Abend wurde in unserer kleinen Küche debattiert und gestritten. Leute kamen und gingen, die ich meist gar nicht kannte. Worte und Begriffe flogen durch Küchendunst und Tabakrauch wie „Weltrevolution“, „Weltherrschaft“, „optimistisches Wetterleuchten aus dem Osten“ und „Zusammenbruch aller Welten“. Es kam dabei von erbitterten verbalen Gefechten bis zu tödlichen Feindschaften. Onkel Lui, der 1917 mit meinem Papa in der mörderischen Schlacht vor Verdun verwundet worden war, verlor sein mühsam Erspartes durch den Zusammenbruch der Banken und erhängte sich nach solch einer Debattiernacht.
Meine geliebte und schöne Tante Maria wurde das Opfer eines holländischen Heiratsschwindlers. Sie wurde geschwängert und ihres Sparkassenbuches beraubt. Streng katholisch wie alle in unserer Familie – außer Papa – schämte sie sich, war verzweifelt, sah ihr junges Leben am Ende und ging – wie viele Hoffnungslose damals – als letzten Ausweg in den Rhein.
Die nach diesem Fluß benannte „Rheinpfalz“ titelte im Mai „Die Welt ist aus den Fugen“.
Vetter Heinz, der Heidelberger Doktorand und spätere Philosoph und Theologe knurrte verächtlich: „Hamlet! Bei Shakespeare geklaut.“ Er war eine Autorität für mich und ließ mich auf meine Bitte des englischen Dichters Königsdramen lesen, die ich in mich hineinfraß – wobei ich außer Mord und Totschlag nicht viel kapierte. Das einzige, was mehr in mein Herz als in meinen jungen Verstand sickerte, war die Tatsache, daß dieser Hamlet den Mord an seinem Vater rächen wollte und die Kraft in sich spürte, nebenbei auch noch die Welt, die aus den Fugen sein sollte, zu retten.
Mehr wollte ich ja auch nicht. Meinen blutenden und in seiner Ehre verletzten Vater rächen. Aber wo liegt dieses Land, das solche Helden gebiert? Es muß größer und stärker sein als unser Land, das gerade einen großen Krieg verloren hatte.
Zu Hause hatten wir nur die Wanderkarte des Pfälzer Waldvereins. Ich wollte mehr sehen. Die ganze Welt. Dazu brauchte ich die kleine bunte Kugel aus dem Buchladen. Den Globus. Die Erde in Händen halten, den Riß, die Fugen sehen und erkennen, wo dieses sagenumwobene Königreich liegt. Zu allem Überfluß veröffentlichte die Presse in dieser Chaoszeit ein Gedicht des schon lange verstorbenen Ferdinand Freiligrath unter dem anmaßenden Titel: „Deutschland ist Hamlet!“ Ein Wahn brach aus. Die Figur wurde vieldeutig zum Grübler mit scharfem Geist und tiefdringender Einsicht geprägt. Sie wurde gar zum Repräsentanten der modernen Salonwelten. Ein großer Teil der intellektuellen Jugend wurde von der ungeliebten Politik abgelenkt und verliebte sich in dieses ihr Spiegelbild. Viele Theater spielten den Hamlet modern in Frack und Zylinder oder besetzten die Hauptrolle mit einer sich blasiert gebenden Darstellerin. Aber der Gipfel großer Schauspielkunst war die atemberaubende Ausdeutung durch Gustaf Gründgens. Er spielte sich mit dieser Rolle in die Herzen und Sinne einer großen Literaturfamilie hinein und wurde der Schwiegersohn des Nobelpreisträgers Thomas Mann.
Nun war mein Idol geadelt, und ich schrieb aus des Vetters Buch mein Leitmotiv: „Die Zeit ist aus den Fugen! Weh mir, daß ich geboren bin, sie wieder einzurichten!“
Ich träumte mich hinein in diese Tat. Ich spürte Riesenkräfte in mir wachsen. Ich kannte ja schon meinen Schiller und bog seinen Don Carlos für mich zurecht: „Bald 14 Jahre und noch nichts für die Unsterblichkeit getan.“
Christus war doch auch nicht älter, als er die betrügerischen Händler aus dem Tempel jagte, machte ich mir Mut. Meine blühende Kinderphantasie malte sich ihre eigene Heldengalerie: Odysseus, der Papst, Friedrich Schiller, Reichspräsident von Hindenburg und Ernst Thälmann. Dazu kam jetzt der Dänenprinz Hamlet.
Wahrhaft eine politisch-historische Geisterbahn.
Am 9. Mai bekam ich zu meinem Geburtstag den kleinen, heiß ersehnten Globus, fand aber trotz intensiven Suchens weder Riß noch Fugen. Onkel Willi, der Reichste in unserer Familie, schenkte ihn mir. Sarkastisch drohend meinte er dazu: „Was faul ist in unserem Staate Dänemark werden wir ausrotten, wie dein Hamlet es tat. Mit Stumpf und Stiel!“
Da trug er schon das Hakenkreuz am Jackenkragen. Die tödliche Bedeutung dieses Satzes ging mir erst Jahre später auf.
Und dann ging alles sehr schnell. Eine dramatische Tuberkulose, die mein Vater aus den Schützengräben von Verdun mitbrachte, fesselte mich Monate an eine Kinderheilstätte im pfälzischen Bergzabern. Als ich zurückkam, konnte ich in unserer kleinen Küche die versäumten und ungeliebten lateinischen unregelmäßigen Verben nacharbeiten. In aller Ruhe, keine Streitereien, kein Tabakqualm, keine fremden Leute, kein Politgezänk. Einige Lehrer und Studienräte waren neu, etliche verschwunden. Der neue Rex trug Naziuniform und war von unnahbarer Strenge. Den Religionsprofessor gab es nicht mehr. Am 1. Mai marschierte mein katholischer Pfadfinderverband friedlich bei der Hitlerjugend mit, und für den 9. Mai, meinen Geburtstag, hatte mir Onkel Willi schon die Jungvolkuniform mit Koppel, Schulterriemen und Fahrtenmesser mit eingelassener Siegrune gekauft.
Ich begriff nicht, daß das alles der Anfang vom Ende war. Wie sollte ich auch? Meine Heldengalerie änderte sich nun wie von selbst.
Der Papst und Ernst Thälmann wurden gestrichen und gegen die Naziidole Leo Schlageter und Horst Wessel ausgetauscht.
Am 9. Mai 2016 vollendet unser auch im hohen Alter noch aktiver und streitbarer Kampfgefährte, der wiederholt mit dem Nationalpreis der DDR ausgezeichnete DEFA- und Fernsehregisseur
Rudi Kurz
sein 95. Lebensjahr. Der leidenschaftlich engagierte Künstler hat mit seinen international Aufsehen erregenden TV-Serien – darunter dem als „Straßenfeger“ bezeichneten „Grünen Ungeheuer“ und eindringlichen Porträts namhafter Antifaschisten, Friedenskämpfer und Helden der deutschen Arbeiterbewegung – einen bleibenden Beitrag zu den Erfolgen der Kinematographie der DDR geleistet.
Wir sind stolz darauf, Dich an unserer Seite zu wissen. Sei herzlich umarmt, lieber Rudi!
Nachricht 676 von 2043