Rudi Kurz: Hamlet im Mai (Teil 2)
Rudi Kurz
Die Manns flüchteten wie viele andere in die Emigration, und Gründgens machte eine Riesenkarriere mit einem spektakulären Mephisto und seinem unerschöpflichen Talent für Theater und Kino, das er der neuen Welt eitel zur Verfügung stellte.
Die schwärzeste Zeit der deutschen Geschichte hatte begonnen. Es wurden Bücher verbrannt und Menschen gejagt, Waffen geschmiedet ohne Ende und Juden vergast, Länder überfallen, in Trümmer gelegt und deren Völker versklavt.
Auch mein Hamlet-Traum war gestorben. Die Rollen, die ich mir inzwischen im Schauspielstudium erarbeitete, waren Max Piccolomini, der Romeo, Franz Moor und andere. Ich konnte nicht ahnen, daß das Schicksal nach diesem furchtbaren Krieg noch einen Pfeil für mich im Köcher hatte.
Shakespeares „Hamlet“
in einer Ausgabe
von 1604
Ich erinnere mich mit Entsetzen daran, daß mir der kleine Globus in der ersten Zeit des Krieges Orientierungshilfe war bei der Registrierung der eroberten fremden Länder, die uns nichts, aber auch gar nichts getan hatten.
Alles, was hier geschah, zum Himmel schreiendes Unrecht und Verbrechen, kaum zählbare Millionen von Toten, wurde zur untilgbaren Schuld Deutschlands. Der ach so grüblerische und tiefsinnige Deutsche erfüllte hier seine vaterländische Pflicht als treuer Patriot und tapferer Soldat. Bis zum bitteren Ende. Wie auch ich. Zwölf Jahre Schande lasteten auf unserem Land und auf denen, die das Unrecht nicht nur geduldet, sondern gläubig mitgetragen und so auch mitzuverantworten hatten.
Dann kam der 9. Mai 1945, der erste Tag des Friedens. Wundervolle Morgenstille. Kein Schuß mehr, kein Kanonendonner, kein Kriegslärm. Nur das Schlurfen Vieltausender müder Stiefelsohlen. Ausgezogen, die Welt zu erobern, trotteten wir in Zehnerreihen in eine ungewisse Zukunft. Nach der monatelangen Einkesselung durch die Rote Armee ausgehungert, deprimiert und mutlos. Lähmende Ungewißheit. Tief in mir das Geburtstagsglück des Wiedergeborenseins, überdeckt von der Angst vor dem Kommenden.
Franz Fühmann, der später bekannte Dichter, sagte: „Sie schlagen uns tot. Was sollen sie anderes mit uns machen? Sie werden uns doch nicht füttern und dann laufen lassen. Wir haben doch nichts anderes verdient!“
Sie schlugen uns nicht tot. Sie haben ihr Brot und ihre Suppe mit uns geteilt. Sie ließen uns aber auch nicht laufen, sondern wir mußten erst einmal unseren Tribut zollen, wenigstens einen Teil der totalen Zerstörungen und Ausplünderungen wiedergutmachen.
Eingesetzt wurden wir überall, wo es am dringendsten war. Trümmer beseitigen und Wiederaufbau von Industrie, Bergbau und Landwirtschaft.
Ich war in der Anfangszeit beteiligt an der Wiederherstellung eines riesigen Zementwerks im Norden Lettlands. Trotz einer gewissen Einsicht in den gerechten Ablauf der Ereignisse stand im Zentrum unseres Bewußtseins immer noch die Angst um unser eigenes Schicksal. Alle Fragen nach unserer möglichen Heimkehr wurden mit einem beruhigenden „skoro“ (bald) beantwortet. Daß es fünf oder gar mehr Jahre werden würden, lag in der Luft. Gegen die immer mehr um sich greifenden Depressionen wurde eine kleine Gruppe von Einsichtigen gebildet, die Vorträge, Lesungen und improvisierte kleine Programme gestaltete, an denen ich mich intensiv beteiligte.
Es fanden sich auch einige Schauspieler wie Rainer Blum vom Berliner Gärtnertheater, Erwin Laurenz, Komiker aus Köln, Wolfgang Luderer, junger Schauspieler aus einer bekannten Weimarer Theaterfamilie, Kurt Kisbye, Maler und Bühnenbildner aus Hamburg, Martin Ritzmann, der spätere legendäre Tenor der Staatsoper, Alwin Schock, Bariton und Bruder des weltbekannten Rudolf Schock, Gustl Zorn, Komiker und Theaterallrounder aus Sachsen. Dazu kam als Regisseur unser Mentor, der Drehbuchautor Herman Loeb, der in der Nazizeit unter einem Pseudonym Filme für die UFA schrieb. Zwei oder drei begabte Laien und einige Musiker mit ihren Instrumenten vervollständigten unsere sogenannte Kulturgruppe.
Wir bastelten nach der anstrengenden Tagesarbeit bis in die Nächte an der Qualität unserer Programme. Aber mehr oder weniger blieb es bei Estraden, bunten Abenden oder heiteren Schwänken ohne tiefere Inhalte. Es näherte sich der nächste 8. Mai, der erste Jahrestag der Kapitulation des Nazireichs, wie wir den Tag noch bezeichneten.
Walter Flagge, unser Antifa-Mann, überbrachte Wunsch und Vorschlag der sowjetischen Lagerleitung nach einer würdigen Kulturveranstaltung für die deutschen Kriegsgefangenen zum Tag des Sieges der Sowjetarmee. Wir waren ratlos. Wir hatten kein Material für solcher Art Programme.
Eine Nachfrage am sogenannten roten Brett brachte diese dürre Ausbeute: Teile von Faust II, der Cornet von Rilke und zwei Gedichtbände von Storm und Hölderlin. Der Rest war Naziliteratur. Ein Nachzügler brachte ein zerfleddertes schmutziges Reclam-Bändchen, von dem die erste Hälfte herausgerissen war und die letzten beiden Schlußseiten fehlten. Es sah aus, als ob es für hinterlistige Zwecke oder für das Rauchen von Machorka gebraucht worden sei. Die feste Seite mit dem Buchtitel war noch vorhanden. Es war eine deutsche Übersetzung von William Shakespeares „Hamlet“. Klägliches Überbleibsel eines großen Dramas. Nichts als ein jämmerlicher Torso. Nach einer langen Nacht der Überlegungen, der Abwägung und des vehement vorgetragenen Für und Wider fiel die Entscheidung. Mit einer Gegenstimme. Die Zeit drängte, und schon in der nächsten Nacht wurde die Besetzung genauso heiß und widerspruchsvoll durchgepeitscht.
Wem traute man diese Paraderolle zu, die nur zu einem Drittel vorhanden war? Und dazu ohne Ophelia und den berühmten Schicksalsmonolog …
Wer hatte die Ausstrahlung dieses jungen Prinzen, der, gerade aus Wittenberg vom Studium kommend, den Mord an seinem Vater rächen sollte und wollte? Der „… von Zweifel und des Gedankens Blässe angekränkelt“ trotzdem seinen inneren Auftrag klug und wohlüberlegt durchzuführen imstande war. Der aber auch – sein Land retten wollend – sehenden Auges und brennenden Herzens, nur Unglück verbreitend, alles mit sich reißend, in seinen eigenen Untergang rast.
Und das alles in dem berühmtesten Theaterstück der Welt, von dem nur das letzte magere Drittel vorhanden ist.
Wir Komödianten waren inzwischen im Lager bekannt wie die sprichwörtlichen bunten Hunde. Wer sollte sich der Blamage und dem Spott der hartgesottenen Landser aussetzen, die sich unvermittelt und plötzlich einem Bruchstückchen Kunst ausgesetzt fühlten, mit dem sie nichts, aber auch gar nichts zu tun hatten? Die Besetzungskeule traf mich wie ein Donnerschlag. All mein Jammern und Wehren nutzte nichts. In der nächsten Nacht begannen die Proben.
Der Komiker Laurenz spielte die Königin, meine Mutter. Gustl, unser Clown, den Priester und den ersten Totengräber, Luderer meinen Widerpart Laertes und Martin Ritzmann den mörderischen Stiefvater. Rainer Blum, der einzige, der das Zeug zum Hamlet hätte, war über 50 Jahre und zu alt für den dänischen Studenten. Er spielte meinen Freund Horatio.
Die Proben fanden nachts auf der von Kisbye eingerichteten kleinen Bühne des riesigen Speisesaals statt. Kostüme, Perücken, Fecht-Rapiere und Handrequisiten lieh unser weiblicher Kulturoffizier irgendwo in der Nähe aus. Mit jedem Tag stieg unsere Erregung, unser Lampenfieber.
Die Generalprobe dauerte bis gegen 5 Uhr in der Früh, und ab 6 Uhr donnerten die scheppernden Lautsprecher mit Marschmusik, Siegeshymnen und Klassikerdarbietungen den ersten Jahrestag des Sieges ein, den 9. Mai des Jahres 1946. „Prasdnik“ war für alle – Feiertag. Wir brauchten nicht zur Arbeit, und es gab doppelte Essenrationen.
Nachmittags sollte die offizielle Feier beginnen. Wir glaubten fest daran, daß sich das Programm sehen und hören lassen konnte.
Fortsetzung folgt
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