Ruth Rewald ist nicht vergessen
Die am 5. Juni 1906 in Berlin geborene deutsch-jüdische Kinder- und Jugendbuchautorin Ruth Rewald hat u. a. das einzige deutschsprachige Jugendbuch zum Spanienkrieg geschrieben. 1942 wurde sie im KZ Auschwitz ermordet.
Der Literaturwissenschaftler und Historiker Dr. Dirk Krüger aus Wuppertal ist auf diese bemerkenswerte und doch weithin unbekannt gebliebene Antifaschistin aufmerksam geworden und hat in langjähriger mühevoller Recherche ihren Lebensweg erforscht und sie so vor dem Vergessen bewahrt.
Wir dokumentieren Auszüge aus einem Interview, das er dem Sender „arte“ gegeben hat.
Wie sind Sie auf Ruth Rewald gestoßen?
Ich bin beim Studium des in der DDR von Silvia Schlenstedt 1981 erarbeiteten und veröffentlichen Werkes „Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933–1945“ in einer Fußnote auf sie gestoßen.
Was genau haben Sie erfahren?
Daß ihr Nachlaß im Zentralen Staatsarchiv der DDR, in Potsdam, archiviert sei und daß sich darin das unveröffentlichte Typoskript zum Kinder- und Jugendbuch „Vier spanische Jungen“ befinde.
Wie ging es weiter?
1986 habe ich mit Hilfe der DKP die Erlaubnis bekommen, den Nachlaß in Potsdam einzusehen und mehrere Wochen im dortigen Archiv zu arbeiten.
Können Sie uns etwas über diese Autorin sagen?
Ruth Rewald und ihr Mann, der jüdische Jurist Hans Schaul, sind 1933 vor den Nazis nach Paris geflohen. Dort hat sie mit zahlreichen Gelegenheitsarbeiten die Familie „über Wasser gehalten“ und zwei Kinder- und Jugendbücher geschrieben: „Janko – Der Junge aus Mexiko“ und „Tsao und Jing Ling – Kinderleben in China“. Im Herbst 1936 ist Hans Schaul nach Spanien gegangen und hat dort bis zum Ende des Krieges in den Internationalen Brigaden gekämpft.
Und was machte seine Frau?
Ruth Rewald blieb zunächst in Paris, wo am 16. Mai 1937 die Tochter Anja geboren wurde. Als ihr Mann in einem Brief von den vier spanischen Jungen berichtete, die am Nachmittag des 16. Juni 1937 mit dem Ruf „Nix Arriba!“ aus der Bergarbeiterstadt Penarroya zum „Bataillon der 21 Nationen – Tschapajew“ übergelaufen waren, haben Alfred Kantorowicz, Willi Bredel und Gustav Regler beschlossen, Ruth Rewald nach Spanien einzuladen. Sie wollten Ruth bitten, über diese vier Jungs ein Buch zu schreiben.
Wie hat sie reagiert?
Sie hat, nachdem sie eine Betreuung für ihr Kind gefunden hatte, um die Jahreswende 1937/38 drei Monate in dem Kinderheim „Ernst Thälmann“, das die 11. Internationale Brigade in einem verlassenen Schloß in der Nähe von Madrid eingerichtet hatte, zusammen mit den spanischen Kindern gewohnt und gelebt. Nach ihrer Rückkehr machte sie sich ans Schreiben, hielt Vorträge und verfaßte zahlreiche Reportagen, die teilweise in Schweizer Zeitungen veröffentlicht wurden – und etwas Geld einbrachten. Fast alle Exil-Zeitungen haben damals die Geschichte von den vier spanischen Jungen übernommen. Doch ein Verleger für das Buch fand sich nicht. Man lehnte mit der Bemerkung ab, der Spanienkrieg wäre verloren. Es passe nicht mehr in die Zeit.
Was passierte dann?
Im Mai 1940 überfiel die deutsche Wehrmacht Frankreich. Bereits am 14. Juni 1940 erfolgte die kampflose Einnahme von Paris. Frankreich zerfiel in zwei Teile: Es entstand eine „besetzte Zone“ und ein französisches Restgebiet mit dem Regierungssitz im Kurort Vichy und mit General Petain an der Spitze. Hans Schaul, der aus Spanien zurückgekehrt war und zahlreiche Solidaritätsaktionen für Spanien organisiert hatte, hat man zunächst im Lager Le Vernet und dann im Lager Djelfa in Algerien interniert. Er wurde von dort in die Sowjetunion eingeladen. Damit konnte er sein Leben retten.
Ruth Rewald packte im Mai 1940 ihr gesamtes geschriebenes und gedrucktes Hab und Gut in einen Koffer (deutsche Frauen mit Kindern waren noch von der Internierung in Lagern ausgenommen) und floh zunächst nach Saint Nazaire. Als die Stadt von den Nazis zu einem militärischen Sperrgebiet erklärt wurde, floh sie weiter die Loire entlang und gelangte am 29. November 1940 nach Les Rosiers-sur-Loire. Dort bekam sie eine kleine Wohnung. Ihre Tochter konnte ohne Probleme die Schule besuchen. Ihre letzte Karte an ihren Mann trägt das Datum 17. Juli 1942 und das Poststempeldatum 18. Juli 1942. Sie schreibt: „Mein lieber Hans! Es ist soweit. Ich fahre zur Erntearbeit, ich weiß noch nicht wo … Ich glaube nicht, daß du so bald Nachricht bekommst … Außer der Trennung von Anja wird mir nichts etwas ausmachen … Dir alles Gute! Ruth“
Was geschah im Juli 1942 genau?
Les Rosiers lag in der „Zone d’occupation allemande“, in der besetzten Zone. Ruth Rewald wurde am 17. Juli 1942 im Rahmen der Großrazzia „Rafle du Vél d’Hiv“, die Teil der „Opération vent printanier“ und Teil der „Operation écume de mer“ zur „ehebaldigsten restlosen Freimachung Frankreichs von Juden“ von der Gestapo mit Unterstützung der französischen Polizei verhaftet und ins Gefängnis von Angers gebracht. Am 18. und 19. Juli wurden von den Behörden die Deportationslisten erstellt. Darauf waren die Namen von 824 Juden, darunter 430 Frauen, registriert. Ruth Rewald bekam die Nummer 68. Am 20. Juli, um 21.35 Uhr, verließ der Zug den Bahnhof von Angers st. Laud. Sein Ziel: das KZ Auschwitz.
Ruth Rewald wurde nur 36 Jahre alt. Ich habe mich oft gefragt, was sie nicht alles hätte schaffen können, wenn sie überlebt hätte. Bereits die Arbeiten vor 1933 bewiesen ihre großartige Fähigkeit, Bücher für Kinder und Jugendliche zu schreiben. Ihre Erzählung „Janko – Der Junge aus Mexiko“ ist gerade heute angesichts der aktuellen Flüchtlingsbewegungen hochaktuell. Es gibt für mich kein besseres Kinder- und Jugendbuch zu diesem Problem. Auch „Tsao und Jing Ling“ ist für die immer wieder aufflammende Diskussion um Kinderarbeit ein sehr wichtiges und aktuelles Buch. Ganz zu schweigen von „Vier spanische Jungen“, das auch 80 Jahre danach das einzige, packend und informativ geschriebene deutschsprachige Kinder- und Jugendbuch zum Spanienkrieg geblieben ist.
Was geschah mit Anja und dem Koffer mit den Unterlagen?
Das Mädchen wurde zunächst von der Nachbarin und später von der Lehrerin betreut. Den Koffer hat die Gestapo beschlagnahmt und in ihr Hauptquartier nach Berlin gebracht. Nach der Befreiung Berlins haben ihn Soldaten der Roten Armee gefunden und nach Moskau geschickt.
1957 wurde er dann in einem „Staatsakt“ der DDR übergeben, die ihn im Zentralen Staatsarchiv in Potsdam archivierte. Er schlummerte danach unentdeckt und unbeachtet vor sich hin, selbst ihr Mann wußte davon nichts. Erst 1979 hat ihn die Wissenschaftlerin Silvia Schlenstedt entdeckt.
War das Zentrale Staatsarchiv die einzige Quelle für Ihre Forschungen?
Nein. Ich hatte inzwischen erfahren, daß ihr Ehemann Hans Schaul in der DDR lebte. Ich bekam Gelegenheit, mit ihm und seiner zweiten Ehefrau, Dora, lange Gespräche zu führen. Dabei ging es auch um Einzelheiten zu den „Vier spanischen Jungen“, die er fotografiert hatte. Er übergab mir alle 42 Karten, die er in der Zeit vom April 1941 bis Juli 1942 von Ruth erhielt – darunter auch die letzte vom 17. Juli 1942. Es war das letzte Lebenszeichen von Ruth Rewald.
Haben Sie nicht auch in Les Rosiers geforscht?
Ja. Es war ein emotional sehr bewegender Besuch. Ich war im Sommer 1988 in Les Rosiers und habe viele Einzelheiten erfahren. Die Lehrerin von Anja hat ganz detailliert und mit großem Schmerz und Trauer über ihre Bemühungen berichtet, das Kind zu retten, es zu adoptieren. Aber die Nazi-Barbaren hätten das weinende Kind „am Morgen des 25. Januar 1944“ brutal aus der Klasse geholt. Es wurde nach Drancy und von dort, wie ihre Mutter, nach Auschwitz deportiert und ermordet. Sie hat mich auch über die Kontakte zur französischen Résistance informiert und die ersten kleinen Briefe und Zeichnungen von Anja an ihren Vater und an den Weihnachtsmann hinzugefügt.
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