RotFuchs 190 – November 2013

Weder Dämonisierung noch Glorifizierung
vermitteln ein objektives Bild

Sachliches über Stalin

Prof. Dr. Horst Schneider

Mehr als 60 Jahre nach Stalins Tod am 5. März 1953 ist der sowjetische Staatsmann und Parteiführer laut „Spiegel“ für Deutsche „Bruder Todfeind“ und „mit Hitler gleichzusetzen“. War das vor sechs Jahrzehnten auch so?

Wer diesen Tag erlebt hat, wird nie vergessen, welche Trauer Millionen und Abermillionen Menschen überall auf der Welt empfanden. Fotos, Filme und Berichte dokumentieren das. Nicht nur Bürger der UdSSR fragten: Wie soll es ohne IHN weitergehen? Und sechzig Jahre später? Ist Stalins Bild aus dem Gedächtnis der Nachkommen verdrängt, sein Wirken allein auf das Schlagwort „Stalinismus“ reduziert?

Im ND vom 5. März 2013 las man: „LINKE-Spitze einhellig für Gedenken an Opfer des Stalinismus“ sowie den Text einer Gedenktafel, die am Gebäude des Parteivorstands der Linkspartei angebracht werden soll.

Das unter Stalin an unzähligen aufrechten Kommunisten der UdSSR und anderer Länder begangene Unrecht wird weder vergessen noch verziehen. Es ist aus dem Buch der Geschichte nicht zu löschen, gehört es doch zu den schlimmsten Entartungen in der überwiegend ehrenhaften Chronik der kommunistischen Bewegung.

Verbindet sich aber nichts anderes als das mit Stalins Namen?

Springers „Die Welt“ bezeichnete den sowjetischen Spitzenpolitiker am 5. März 2013 als „Allmächtigen“ und widmete ihm einen ganzseitigen Artikel. „Nur wenige Menschen haben das 20. Jahrhundert derart geprägt wie … Stalin“, lautete dessen erster Satz.

Etliche Kommentare brachten mich auf die Idee, über Stalins Beziehungen zu den Deutschen tiefer nachzudenken. Vor 1945 war er für mich der „Blutsäufer“, wie ihn die faschistische Goebbels-Propaganda und auch einige meiner Lehrer darstellten, nach der Befreiung im Mai 1945 wurde er für Millionen in einem widerspruchsvollen Prozeß allmählich der „weise und große Staatsmann“, nach dem Sieg der Konterrevolution in der UdSSR und den ehemals sozialistischen Staaten Europas dann aber eine geschichtliche Persönlichkeit, wie sie Schiller im „Wallenstein“ sah: „Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.“

Bei weiterem Nachdenken zeigt sich: Die Deutschen, die Stalin so oder so sahen und sehen, gibt es nicht. Jeder sieht in ihm höchst Unterschiedliches. Nazis und Bischöfe den Leibhaftigen, nicht wenige Kommunisten die Hoffnung auf eine vom Kapitalismus befreite Menschheit, bourgeoise Politiker eine Figur im Ränkespiel der Mächte. Und umgekehrt: Stalin hatte als Staatsmann mit den Spitzenpolitikern der Weimarer Republik und Nazideutschlands, dann aber auch mit Wilhelm Pieck und dessen Mitstreitern zu tun. Sein Sohn fiel als Offizier den Faschisten in die Hände und fand im Konzentrationslager den Tod.

Das Thema „Stalin und die Deutschen“ ist mir nicht fremd. Der namhafte SED-Kulturpolitiker Alexander Abusch legte 1949 den Titel „Stalin und die Schicksalsfragen der deutschen Nation“ vor. Dort wurden sowohl seine theoretischen Arbeiten analysiert, die sich mit der „deutschen Frage“ befaßten, als auch Stalins Handlungen bei schicksalsschweren Ereignissen: Brest-Litowsk, Rapallo, dem Nichtangriffspakt, Plänen für die Nachkriegsentwicklung, Potsdam und der DDR-Gründung.

Mit welchem Respekt Stalin damals behandelt wurde, läßt sich unschwer aus Begriffen herauslesen, die Abusch für ihn fand: „Lenin unserer Tage“, „marxistischer Erzieher“, „wahrer Führer für alle friedliebenden Völker“.

Ohne Zweifel gehörte Stalin zu den Kampfgefährten Lenins, welche mit der Oktoberrevolution eine weltgeschichtliche Wende einleiteten.

Die „Rapallo“-Politik sollte Grundlage friedlicher Koexistenz zwischen Deutschland und Sowjetrußland werden. Nützte oder schadete sie den Deutschen?

Wenn Stalins Einfluß auf die deutsche Politik geprüft wird, ist vor allem auch das Wirken der Kommunistischen Internationale – der Komintern – in Betracht zu ziehen. Er war an der Ausarbeitung ihrer Strategie und Taktik maßgeblich beteiligt. Stalin unterstützte die Politik Ernst Thälmanns auch zu einem Zeitpunkt, als dieser von innerparteilichen Widersachern im Zuge der „Wittorf-Affäre“ zu Fall gebracht werden sollte. Hier ist nicht der Platz, um auch von Stalin zu verantwortende taktische Fehler der KPD vor 1933 zu erörtern. Ich meine vor allem die Bewertung der SPD als „sozialfaschistisch“.

Stalin kannte – auch aus geheimdienstlichen Quellen – Hitlers Pläne, die UdSSR durch einen Aggressionskrieg zu vernichten. Unter diesen Umständen blieben der sowjetischen Führung nur zwei Optionen: Mit Frankreich und England ein System der kollektiven Sicherheit gegen Nazideutschland zu vereinbaren, was mit „München“ 1938 scheiterte, oder den Kriegsausbruch solange wie möglich hinauszuschieben. Denn seit 1933 war Deutschland für die UdSSR der potentielle Aggressor. Der 1939 abgeschlossene Nichtangriffsvertrag zwischen Moskau und Berlin, der zweifellos auch negative Begleitumstände hatte, ist nur so zu erklären, nicht aber als „Hitler-Stalin-Pakt“ fehlzuinterpretieren.

Am 3. Juli 1941 stellte Stalin fest: „Man könnte fragen: Wie konnte es geschehen, daß sich die Sowjetregierung auf den Abschluß eines Nichtangriffspaktes mit solchen wortbrüchigen Leuten und Ungeheuern wie Hitler und Ribbentrop eingelassen hat? Ist hier von der Sowjetregierung nicht ein Fehler begangen worden? Natürlich nicht! Ein Nichtangriffspakt ist ein Friedenspakt zwischen zwei Staaten. Eben einen solchen Pakt hat Deutschland uns im Jahre 1939 angeboten.

Konnte die Sowjetregierung ein solches Angebot ablehnen? Ich denke, kein einziger friedliebender Staat kann ein Friedensabkommen mit einem benachbarten Reich ablehnen, selbst wenn an der Spitze dieses Reiches solche Ungeheuer und Kannibalen stehen wie Hitler und Ribbentrop. Dies aber natürlich unter der einen unerläßlichen Bedingung, daß das Friedensabkommen weder direkt noch indirekt die territoriale Integrität, die Unabhängigkeit und die Ehre des friedliebenden Staates berührt.“

Stalin zog das Fazit: „Was haben wir durch den Abschluß des Nichtangriffspaktes mit Deutschland gewonnen? Wir haben unserem Lande für eineinhalb Jahre den Frieden sowie die Möglichkeit gesichert, unsere Kräfte zur Abwehr vorzubereiten, falls das faschistische Deutschland es riskieren sollte, unser Land trotz des Paktes zu überfallen. Das ist ein unbestreitbarer Gewinn für uns und ein Verlust für das faschistische Deutschland.“

„Der Spiegel“ deutete in seiner Ausgabe vom 11. Juni 2011 das Geschehen freilich anders. Er schrieb über ein Porträt Stalins: „Bestie und Unmensch … Die deutsche Niederlage entschied das Duell zweier Despoten, die einander seit 1923 belauert hatten: Hitler und Stalin.“ Immerhin wurde eingestanden: „In den Jahren des Krieges hing alles, aber auch alles vom Widerstand der Roten Armee ab. Am Ende des Krieges war Stalin, auch für Hunderte Millionen Menschen außerhalb der Sowjetunion, zu dem unverrückbaren Begriff, ja zu dem Inbegriff der Größe des sozialistischen Staatsmannes geworden, dem sie die Rettung der demokratischen Freiheit der ganzen Welt vor ihrer Vernichtung durch Hitler zu danken hatten.“

Stalin hatte es seit der Schlacht an der Wolga weitgehend in der Hand, wie mit den Eindringlingen zu verfahren war. Sollte er die Mordbefehle Hitlers und seiner Feldmarschälle kopieren? „In der ausländischen Presse wird manchmal darüber geschwätzt, daß die Rote Armee das Ziel habe, das deutsche Volk auszurotten und den deutschen Staat zu vernichten … Solche idiotischen Ziele hat die Rote Armee nicht und kann sie nicht haben. Die Rote Armee setzt sich das Ziel, die deutschen Okkupanten aus unserem Lande zu vertreiben und den Sowjetboden von den faschistischen deutschen Eindringlingen zu befreien.

Es ist sehr wahrscheinlich, daß der Krieg für die Befreiung des Sowjetbodens zur Vertreibung oder Vernichtung der Hitlerclique führen wird. Wir würden einen solchen Ausgang begrüßen. Es wäre aber lächerlich, die Hitlerclique mit dem deutschen Volk, mit dem deutschen Staat gleichzusetzen. Die Erfahrungen der Geschichte besagen, daß die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk, der deutsche Staat aber bleibt“, hieß es in Stalins Armeebefehl Nr. 55 vom 23. Februar 1942.

Der Einsilbigkeit mancher „Linker“ beim Thema Stalin stehen die Aktivitäten von Antikommunisten aller Schattierungen gegenüber. Den meisten geht es darum, Hitler und Stalin gleichzusetzen, um damit die Totalitarismusdoktrin, die Sozialismus und Faschismus auf eine Stufe stellt, „wissenschaftlich“ zu begründen.

Schon am 26. Januar 1934 hatte Stalin auf dem XVII. Parteitag der KPdSU erklärt: „Wer den Frieden will und geschäftliche Beziehungen mit uns anstrebt, wird stets bei uns Unterstützung finden. Denjenigen aber, die versuchen sollten, unser Land zu überfallen, wird eine vernichtende Abfuhr zuteil werden, damit ihnen in Zukunft die Lust vergeht, ihre Schweineschnauze in unseren Sowjetgarten zu stecken.“

Millionen Menschen, zunächst die Angehörigen der Naziwehrmacht, hatten die Folgen der Mißachtung dieser Warnung zu tragen. Daß der Krieg am erbittertsten auf dem Boden der Sowjetunion geführt wurde, nutzte die faschistische Propaganda, um Stalin und der Roten Armee die unendliche Zahl der Opfer anzulasten. Bis zum Mai 1945 glaubten viele Wehrmachtssoldaten, ihre Heimat gegen den „Bolschewismus“ zu schützen. Sie ließen sich von den nazistischen Bankrotteuren bis fünf Minuten nach zwölf – vor und in Berlin – mißbrauchen.

Wie aber sollte es nach der Kapitulation weitergehen?

Am 9. Mai 1945 sagte Stalin: „Die Sowjetunion feiert den Sieg, wenn sie sich auch nicht anschickt, Deutschland zu zerstückeln oder zu vernichten.“

In den internationalen Beziehungen suchte Stalin nicht nur sowjetische, sondern auch Interessen der friedliebenden und demokratischen Kräfte Deutschlands durchzusetzen. Das beweisen das Potsdamer Abkommen, die Unterstützung der Herstellung der Arbeitereinheit und des Volksentscheids über die Enteignung der Kriegs- und Naziverbrecher, vor allem aber die Zustimmung zur Gründung der DDR. Am 13. Oktober 1949 schrieb er in seiner Glückwunschbotschaft an Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl: „Die Bildung der friedliebenden Deutschen Demokratischen Republik ist ein Wendepunkt in der Geschichte Europas.“

Veröffentlichte Dokumente, darunter auch die Gesprächsprotokolle von SED-Politikern mit Stalin, lassen das Urteil zu, daß er gegen die Spaltung Deutschlands war. Er versuchte, die Remilitarisierung der BRD und damit den Rüstungswettlauf auf deutschem Boden zu verhindern. Zugleich riet er den SED-Politikern, den Aufbau des Sozialismus nicht zu forcieren. Die letzte Tat in der „deutschen Frage“, die mit dem Namen des sowjetischen Staatsmannes verbunden war, ist die sogenannte Stalin-Note vom 10. März 1952. Darin wandte er sich an die Regierungen der USA, Großbritanniens und Frankreichs und plädierte für den Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland, wobei er konkrete Vorschläge für dessen Ausgestaltung unterbreitete. Als Kernbestandteil betrachtete Stalin das Weiterbestehen Deutschlands als einheitlicher Staat, gesamtdeutsche Wahlen nach den Regeln des bürgerlichen Parlamentarismus, den Abzug aller Besatzungsmächte von deutschem Boden und die Festlegung des demokratisch verfaßten deutschen Staates auf einen ihn vertraglich verpflichtenden Neutralitätsstatus. Adenauer und seine Auftraggeber in Washington lehnten das Angebot ab und wählten den Weg der weiteren Spaltung und der Verschärfung des Kalten Krieges. Am 19. März 1953 wurde im Bundestag mit 225 gegen 165 Stimmen der „Generalvertrag“ angenommen, der die BRD in die NATO führte.

Nicht verschwiegen werden soll, daß die von Stalin empfohlene global- und kontinentalstrategisch determinierte „Österreich-Lösung“, wäre der Westen auf sie eingegangen, vermutlich schwerwiegende Konsequenzen für die DDR gehabt hätte. Eine 40jährige Existenzdauer wäre ihr dann wohl kaum beschieden gewesen.

Im Dezember 1989 sorgten von Marx, Engels und Lenin wegdriftende „Reformer“ dafür, daß die Hauptlosung des SED-PDS-Parteitags nicht „Wir retten die DDR“, sondern „Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System“ hieß. Eine verhängnisvolle Entscheidung.

Vor etwa einem Jahrzehnt faßte der Vorstand des RF-Fördervereins folgenden Beschluß:

Wir betrachten Stalin als eine bedeutende Persönlichkeit der Geschichte – mit Licht und Schatten, Verdiensten und Verbrechen. Seine historische Rolle ist nur unter den Bedingungen von Raum und Zeit zu bewerten. Der RF weist den Begriff „Stalinismus“ zurück und lehnt jede Dämonisierung oder Glorifizierung der Person Stalins ab.