Sachliches über die Berliner
Volkspolizei in der DDR-Endphase
Schwierige Gratwanderung
Führende Offiziere der VP der Hauptstadt der DDR haben das beachtenswerte Sachbuch „Die Berliner Volkspolizei 1988/89“ vorgelegt. Es stellt eine chronologische Dokumentation des Handelns dieses Staatsorgans in den letzten schwierigen Jahren des Bestehens der DDR dar. Bemerkenswert ist dabei die Zurückhaltung der Autoren bei politischen Wertungen. Sie urteilen nicht vom marxistischen Standpunkt aus, lassen sich aber auch keineswegs vom „Mainstream“ der Meinungsmache vereinnahmen.
Bei dem Versuch, die Ursachen für das Scheitern des ersten sozialistischen Anlaufs auf deutschem Boden herauszuarbeiten, hatten die Autoren allerdings keinen Erfolg. Dazu steht eine wissenschaftliche Analyse bislang noch nicht zur Verfügung. Dennoch leisten ihre Zeitzeugenaussagen einen Beitrag dazu. Wer die Defizite der DDR beurteilt, darf das unablässige Agieren der BRD gegen sie nicht außer Betracht lassen. Die Wirkungen des Antikommunismus waren bis zum letzten Tag ihrer staatlichen Existenz enorm. Die oppositionellen Gruppen wurden aus dem Westen nicht nur mit Worten, sondern auch materiell und finanziell vielseitig unterstützt.
Dies zeigte sich besonders im Wahlkampf zu Beginn des Jahres 1990. Damals waren die Voraussetzungen einer konterrevolutionären Situation, deren Kriterien denen einer revolutionären Situation unter umgekehrten Vorzeichen entsprechen, durchaus gegeben: Die politisch Herrschenden konnten nicht mehr auf die alte Weise regieren, und die Regierten wollten nicht mehr so weiterleben. Das traf auch auf die DDR zu.
Diese Erkenntnis hatte sich bei vielen Volkspolizisten verfestigt. Da sich die Partei- und Staatsführung als handlungsunfähig erwies, entstanden Voraussetzungen für eine echte Konterrevolution. Ob sie blutig verlaufen würde, hing – wie stets – von den Handelnden ab. Das beweist ein Blick in die Geschichte:
Als die deutsche Novemberrevolution 1919 die kapitalistische Ordnung in Gefahr brachte, ließen die Ebert und Noske Waffen gegen die Arbeiter sprechen und ermordeten deren Führer. Auch die Spanische Republik wurde mit Unterstützung Hitlerdeutschlands und Mussolinis Italien in einem Krieg zu Fall gebracht, an dessen Ende der Sieg von Konterrevolutionären stand.
Warum es 1989 in der DDR zu keinem Blutvergießen kam, wird im Buch der VP-Offiziere überzeugend dargestellt. Das Politbüro der SED verbot den Einsatz von Schußwaffen gegen Demonstranten, und die Volkspolizei ging mit ihrem Gewaltmonopol behutsam um. Auch jene unter den opponierenden Kräften, die tatsächlich eine bessere DDR wollten, traten für Gewaltfreiheit ein. Leider war die daraus resultierende Sicherheitspartnerschaft in der Praxis recht einseitig. Es fragt sich, ob sie nicht auch gewisse Illusionen geweckt und zu einer Unterschätzung möglicher Gefahren geführt hat.
Dies veranschaulichen am prägnantesten die Ereignisse bei der Erstürmung der Zentrale des MfS. Wenn ein Veranstalter öffentlich dazu aufruft, bei einer Demonstration Steine mitzubringen, ist das ein Appell zur Gewalt. Und wenn sich dann hinterher herausstellt, daß der vermeintliche Sicherheitspartner von den seinerseits zugesagten 250 Ordnern nur 30 Prozent gestellt hat, muß das Ganze als Flop betrachtet werden. Dennoch blieb der Berliner Volkspolizei nichts anderes übrig, als an dem Konzept festzuhalten. Sie hatte keine andere Wahl. Beim Lesen der Einsatzdokumentationen wird heute allerdings kein polizeilicher Verantwortlicher begreifen, warum an jenem Tag keine Wasserwerfer eingesetzt worden sind.
Die Autoren sind der Meinung, daß am 7. Oktober 1989 niemand mit einer so großen Menschenansammlung gerechnet hat. Auch wir im MdI gehörten dazu. Erstmals mußte die Volkspolizei mit massiver Gewalt gegen eine Volksmenge vorgehen. Sie war darauf weder politisch-moralisch noch psychologisch, taktisch und ausrüstungsmäßig vorbereitet. Die angewendeten Mittel waren angesichts der bedrohten höheren Rechtsgüter notwendig und angemessen, sieht man von Ausnahmen ab. Wenn heute Journalisten „brutale Gewaltorgien“ erfinden, dann muß man sie an die Polizeieinsätze zur Auflösung der Protestcamps gegen das Atomkraftwerk Wackersdorf oder am Stuttgarter Hauptbahnhof erinnern.
Die Zusammenarbeit zwischen der Volkspolizei und den Polizeibehörden der BRD verlief widersprüchlich. Im Zuge der Grenzöffnung stellten auch die örtlichen Polizeidienststellen der westlichen Bundesländer fest, daß sich eine Zusammenarbeit mit der Volkspolizei als notwendig erwies. DDR-Innenminister Ahrendt wandte sich deshalb in einem Schreiben an den Bundesinnenminister. Auf diese Initiative wurde nicht reagiert. Gegen notwendige operative Absprachen entlang der Grenze hatte man nichts. Doch man wollte die Modrow-Regierung isolieren.
Anders verhielt sich das Bayerische Staatsministerium des Innern. Am 18. 12. 1989 traf ich mich in meiner Eigenschaft als letzter Chef der DVP mit Staatssekretär Dr. Beckstein in Berlin zu einem Gespräch. Wir verabredeten notwendige Maßnahmen der Zusammenarbeit zwischen den Bezirksbehörden der Volkspolizei und den Bayerischen Polizeidirektionen entlang der Staatsgrenze.
Die im Buch dargestellten Probleme bei der Kooperation zwischen den Berliner Polizeibehörden kann ich bestätigen. Die Zusammenarbeit mit Ministerialdirektor Bode von der Senatsinnenverwaltung war konstruktiv, die mit der neuen Innenverwaltung des Ostberliner Magistrats – den Herren Krüger und Haupt – eher hinderlich. Die kollegiale Zusammenarbeit, die ich als MdI-Vertreter in den Arbeitsgruppen der Innenministerkonferenzen und der Deutsch-deutschen Arbeitsgruppe erfahren habe, änderte sich schlagartig, als klar war, daß die letzte „DDR“-Volkskammer die bedingungslose Kapitulation beschließen würde. Jetzt ging es nur noch um die Erfüllung bundesdeutscher Vorgaben.
Wer das hier rezensierte Buch gelesen hat, wird sich die Frage stellen: Warum haben die Volkspolizisten, vor allem auch deren Führungsoffiziere, buchstäblich bis zur letzten Minute ihre Pflicht getan? War ihnen die konterrevolutionäre Rache der Sieger nicht bewußt, oder hofften sie auf Übernahme durch die BRD? Was sie bekamen, waren die Entlassungsurkunden in die Arbeitslosigkeit. Die Chefs der BdVP, der Präsident der VP Berlin, die Leiter der Volkspolizeikreisämter und VP-Inspektionen erhielten eine lebenslängliche Strafe ohne Gerichtsurteil, ohne Schuldfeststellung und ohne die Chance einer Begnadigung. Die gegen sie verhängte Kollektivstrafe bestand in der Kürzung ihrer Rentenansprüche auf einen Rentenpunkt.
Karl-Heinz Kriz / Hans-Jürgen Gräfe (Hrsg.):
Mittendrin
Die Berliner Volkspolizei 1989/90
edition ost, Berlin 2014, 396 S.
ISBN 978-3-360-01857-1
16,99 €
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