Beiträge zur Geschichte des Rundfunks
Signale aus dem Todeslager
Einer ADN-Meldung vom 16. April 1971 war zu entnehmen, daß Prof. Dr. Walter Bartel, Robert Siewert, Herbert Thiele und Reinhold Lochmann anläßlich des 85. Geburtstages von Ernst Thälmann dem Museum für Deutsche Geschichte die originalgetreue Rekonstruktion eines von den Buchenwald-Häftlingen benutzten Kurzwellenempfängers übergeben haben. Dieses Gerät erinnert an ein ungewöhnliches Kapitel Rundfunkgeschichte. Reinhold Lochmann, nach Verbüßung einer mehr als dreijährigen Zuchthausstrafe am 28. Juli 1938 aus dem Moorlager Achendorf-Emsland in das KZ Buchenwald übergeführt und dort als Häftling Nr. 2455 fast sieben Jahre gefangengehalten, führt es uns authentisch vor Augen:
Gerade im Lager Buchenwald zeigte es sich, wie sehr Möglichkeiten und Bedingungen einer illegalen funktechnischen Tätigkeit vom wachsenden Einfluß eines organisierten Widerstandes abhingen, wie sehr aber auch das systematische Abhören antifaschistischer Sender Bestandteil eines sich immer besser entwickelnden Widerstandskampfes unter Führung der KPD wurde. Eine solche Organisiertheit und Einflußnahme dort zu erreichen, wo mit ausgeklügeltem Sadismus SS-Schergen immer neue Mittel und Methoden ersannen, um den Häftlingen das Leben zur Hölle zu machen, war ein sehr konfliktreicher Prozeß. Schon kurze Zeit nach meiner Einlieferung in das KZ Buchenwald wurde ich unter dem Vorwand, die Vollzähligkeit meiner persönlichen Gegenstände zu überprüfen, zur Effektenkammer bestellt, um dort von den Genossen der illegalen Organisation „auf Herz und Nieren“ geprüft zu werden. Die verantwortlichen Mitglieder der Parteileitung, unter anderen Albert Kunz, Dr. Theo Neubauer, Walter Jurich (mit dem ich mich im Block 3 bzw. 40 der rückfälligen politischen Häftlinge befand), erreichten wenig später über mannigfache Kanäle meinen Einsatz in der Radio-Werkstatt.
Zwei der mutigen Widerstandskämpfer aus dem Elektriker-Kommando des KZs Buchenwald: Herbert Thiele, Generaldirektor (l.), und Reinhold Lochmann, Oberst der VP (r.)
Da es nicht immer möglich war, ständig SS-Posten direkt am Arbeitsplatz aufzustellen, ermittelten der langjährige Vorarbeiter dieser Werkstatt, Genosse Armin Walther, ein ehemaliger Sozialdemokrat und Funktionär des Arbeiter-Radio-Bundes aus Riesa, und ich bald die Wellenlänge von Radio Moskau und London sowie die Sendezeiten einiger deutschsprachiger Programme. Dabei konnten wir auch feststellen, daß es im KZ-Gelände sehr günstige Empfangsbedingungen für die kurze Welle gab: Ein Stück Draht von 1 bis 2 m genügte als Antenne. Das brutale Vorgehen der SS und der Einsatz von Sonderabteilungen des „Reichssicherheitshauptamtes“ 1944 im KZ Sachsenhausen, in dem ein heimlich gebautes Rundfunkgerät entdeckt worden war, läßt ahnen, wie die Nazis auch gegen uns mit den brutalsten Mitteln ihrer KZ-Praxis vorgegangen wären. Dennoch: Die zielstrebige Organisierung des antifaschistischen Widerstandskampfes bedingte die ständige Orientierung, die reale Einschätzung der Lage sowie die systematische Zerschlagung des faschistischen Lügengewebes – gerade unter den Bedingungen des KZs, der täglichen Bedrohung und des Terrors.
Unmittelbar nach dem faschistischen Oberfall auf Polen beschlagnahmte die Gestapo Tausende von Radios bei Antifaschisten, Juden und anderen für sie nicht zuverlässigen Personen und brachte einige hundert davon im Oktober 1939 zur persönlichen Verwendung der SS nach Buchenwald. Da die Gestapo und ihre Helfershelfer bei der Beschlagnahme mit diesen Geräten nicht glimpflich umgingen, war der größte Teil defekt. Damit begann in der Radio-Werkstatt des Elektriker-Kommandos – obwohl seit 1. September 1939 durch Ansprache des SS-Sturmführers Krone strikt verboten – die pausenlose Instandsetzung von Rundfunkgeräten. Pausenlos deshalb, weil innerhalb der SS der Kampf um den besten Rundfunkempfänger, die größten Superhets (Überlagerungsempfänger) einsetzte. Jetzt entwickelten wir eine umfangreiche Palette geschickter Verzögerungen. In nicht wenigen Fällen wurden defekte Einzelteile einschließlich Röhren vorgetäuscht, um die Geräte länger behalten zu können. Auch mußte manches noch brauchbare Gerät „sterben“, damit das illegale Ersatzteillager ergänzt werden konnte.
Ebenso nutzten wir die zur systematischen Reparatur einer größeren Anzahl von Rundfunkgeräten sehr unterschiedlicher Qualität und Bauart notwendige Vervollkommnung der Meßinstrumente im Interesse der zukünftigen Belange unserer illegalen Organisation weitestgehend aus: Da die offizielle Bestellung eins Prüfgenerators bei der SS zu Bedenken führen konnte, schlugen wir beispielsweise dem Werkstattleiter vor, diesen selbst anzufertigen. Dieses scheinbar rein technische Prüfgerät in tarnender Alu-Blechverkleidung diente uns als Meßsender, Empfänger für drei Wellenbereiche, Niederfrequenzverstärker sowie zur Gleich- und Wechselstromversorgung. Ein erster Versuch zur Prüfung der Reichweite und Stärke des Senders im KW-Bereich erfolgte 1940 zwischen der Elektriker-Baracke und einer 3 km entfernten SS-Kaserne. Die HF-Energie wurde ummoduliert über unsere Empfangsantenne ausgestrahlt und in der Kaserne bei einer Kontrolle der Verstärkeranlage auf dem vereinborten KW-Bereich getestet. Dieser Versuch und andere erfolgreiche Tests zeigten, daß der Sender im Falle seines Einsatzes für die illegale Organisation eine größere Reichweite sicherte. Die Grundlage für ein straff organisiertes System täglichen Abhörens antifaschistischer Sender war geschaffen. In meinem täglichen Arbeitspensum mußte diese Abhörzeit – anfangs bis 1½ Stunden – berücksichtigt und durch akustische Signale oder Sicherungsposten abgesichert werden, ohne dadurch andere Häftlinge zusätzlich zu belasten oder den Arbeitsprozeß zu beeinträchtigen.
In dieser Zeit war das Informationssystem so aufgebaut, daß die Leitung der illegalen KPD im Lager – ausgenommen bei besonderen Ereignissen – wöchentlich drei- bis viermal von mir informiert wurde. Nach dem offiziellen Abendappell traf ich mich mit dem Genossen Walter Bartel oder mit dem Genossen Harry Kuhn, beide Mitglieder der Leitung des Buchenwaldkomitees, um die neuesten Meldungen stichwortartig mit Kommentar zu übermitteln. Das geschah zumeist bei einem kurzen Abendspaziergang an dafür geeigneten Stellen im Lagerbereich, bei ständigem Wechsel der Zeit und des Ortes. Die Meldungen und Informationen wurden nach ihrer Verarbeitung in der Leitung in geeigneter Form bis zum letzten der in Dreier- oder Fünfergruppen erfaßten Genossen der nach dem Territorialprinzip aufgebauten illegalen Organisation weitergegeben. Damit war eine relativ umfassende Information – und wenn notwendig, zusätzliche Argumentation – gewährleistet, nach der wir alle besonders in den Tagen und Wochen der schicksalhaften Kämpfe vor Moskau und Stalingrad dürsteten. Es war ein großes Erlebnis für mich, als ich im September 1941 erstmalig die Stimme des Deutschen Volkssenders vernahm, mit dem uns das ZK der KPD nun die Informationen und Einschätzungen übermitteln konnte, die wir für die Organisierung des illegalen antifaschistischen Kampfes auch im KZ so dringend brauchten.
Wir ermöglichten auch die unmittelbare Teilnahme von Komsomolzen beim Abhören von Sendungen in russischer Sprache, so zum Beispiel des im Elektriker-Kommando arbeitenden Genossen Alex Lysenko. Damals war mir noch nicht bekannt, daß die sowjetischen Genossen Lysenko, Drapkin und Schelsnjak 1943 selbst einen KW-Empfänger bauten und sehr gut verstanden, diesen zu tarnen. Mit der Gründung des Nationalkomitees „Freies Deutschland“ am 12./13. Juli 1943 begann auch für uns ein neuer Abschnitt des antifaschistischen Widerstandskampfes. Ein solch programmatisches Dokument wie das Manifest des NKFD, das über den mehrmals täglich zu hörenden Sender „Freies Deutschland“ ausgestrahlt wurde, half uns manche noch vorhandene sektiererische Ansicht zu überwinden und das richtige Verständnis für die Politik unserer Partei im Rahmen der sich jetzt breiter entwickelnden Volksfront herzustellen.
Im Lager selbst waren mit der Bildung des Internationalen Lager-Komitees und der organisatorischen Verbreiterung der illegalen Gruppen Bedingungen herangereift, die besonders von den deutschen Kommunisten eine größere Verantwortung und einen stärkeren Einfluß forderten. Die Zahl der Häftlinge aus fast allen Nationen hatte sich 1944 auf über 60 000 erhöht.
Um auch nachts ausländische Sender abhören zu können, entstand der Plan, einen kleinen Kurzwellenempfänger mit eigener Stromversorgung für die Ladestation der Lagerelektriker zu bauen, wo ausschließlich Genossen arbeiteten. Dieser KW-Empfänger entstand im letzten Drittel des Jahres 1943 nach einer Bauzeit von vier bis sechs Wochen.
Dieser Kurzwellenempfänger (2 Röhren RV12P2000) war mit Kopfhörern in präparierten Akkus versteckt.
Bau und Tarnung konzentrierten sich auf zwei etwa gleichgroße Teile, einen zweistufigen Empfangs- und einen separaten Netzteil zur Versorgung mit Anodenspannung. Sie wurden einschließlich Kopfhörer getrennt in speziell dafür präparierten Akkumulatoren aufbewahrt, nachdem die Hälfte der Bleiplatten abgesägt bzw. ganz entfernt und der obere Abschlußteil des Akkus einschließlich der Vergußmasse wieder eingesetzt worden war. Selbstverständlich durften diese Akkus nicht in unmittelbarer Nähe derer stehen, die täglich benötigt wurden.
Um nachts in der Werkstatt bleiben bzw. einen ständigen Wachdienst einrichten zu können, wurde ein „Einbruchdiebstahl“ inszeniert. So konnte eine „sanktionierte“ Abhörstelle geschaffen werden, begünstigt durch die Ausnutzung des Akkumulator-Laderaumes, um den die SS wegen der Säure und Abgase einen Bogen machte. Der Leipziger Jungkommunist Herbert Thiele übernahm diesen Abhördienst und informierte zusätzlich die Leitung des Internationalen Lagerkomitees.
Von sowjetischen Genossen
1943 im KZ Buchenwald
gebauter KW-Empfänger,
versteckt in einem
Marmeladeneimer
mit Schuhfetteinsatz
Im zweiten Halbjahr 1944 nahm auch meine Abhörtätigkeit am Tage zu, damit uns keine bedeutsame Sendung entging. Erforderliche stichpunktartige Notizen auf einem kleinen Zettel wurden in einer aufgetrennten Naht der Häftlingsjacke versteckt und nach Auswertung sofort vernichtet. Unterbrechungen und komplizierte Situationen entstanden oft infolge unkontrollierbaren Abhörens durch Häftlinge, die in den verschiedensten Arbeitskommandos in der SS-Kantine, Trafo-Station, Reinigung usw. zeitweise an Rundfunkgeräte herankamen.
Eine Episode Anfang Oktober 1944 hätte uns beinahe das Leben gekostet: Nach dem Abendappell hatten Genosse Walter Bartel, Rudi Wunderlich und ich uns in die Radio-Werkstatt begeben, um eine angekündigte Ansprache Wilhelm Piecks abzuhören. Kaum hatten wir die Stimme Wilhelm Piecks vernommen, ertönte vom Arbeitszimmer des Kapos ein warnendes Klingelsignal des uns sichernden Genossen Rudi Henning. Da stand auch schon der SS-Kommandoführer der Elektriker in der Tür und drohte, uns auf der Stelle niederzuschießen, wenn wir etwa ausländische Sender abhören sollten. In dieser Situation täuschten wir ein Essen zusätzlich beschaffter Lebensmittel vor, die tatsächlich jetzt auf der Werkbank lagen.
Am nächsten Morgen inspizierte der Gestapo-Verantwortliche Serno die Werkstatt. Wir rechneten mit dem Schlimmsten, nämlich sofort in den Bunker zu kommen und dann einem qualvollen Tod entgegenzusehen. Daß das nicht geschah, hing mit vielen Faktoren zusammen, sicherlich auch damit, daß es ein Verbot des „Reichssicherheitshauptamtes“ gab, innerhalb des Lagers Rundfunkgeräte zu reparieren.
Eine besondere Bedeutung erlangte unser Informationsdienst im entscheidenden Zeitraum unmittelbar vor der Selbstbefreiung des Lagers. Im Bewußtsein der großen Verantwortung für das Leben Tausender Häftlinge machte das Lagerkomitee den Termin des Losschlagens von der politischen und militärischen Lageentwicklung abhängig. Als in der Nacht zum 8. April 1945 der Londoner Sender den Vormarsch der 3. US-Armee bis in den Raum von Gotha meldete, ging nach den Berichten anderer Kampfgefährten ein mehrmaliger Hilferuf in Englisch, Russisch und Deutsch in den Äther: „Hier KL Buchenwald! SOS! Wir bitten um Hilfe …“ Ausgestrahlt von einem in einem Wandzwischenraum verborgenen netzunabhängigen Notrufsender. Wir erlebten verstärkte Tieffliegerangriffe auf die Wachtürme. Doch die Truppen blieben in Gotha stehen. In diesen kritischen Stunden verfolgte unser Abhördienst pausenlos das Frontgeschehen.
In der Nacht zum 11. April kam die Nachricht vom weiteren Vormarsch. Ein langer Sirenenton um 10.30 Uhr: Endlich war der Augenblick unserer Befreiung da, den wir jahrelang ersehnt hatten, wenn wir auch nicht immer sicher waren, ob wir ihn noch persönlich erleben würden.
Aus „FF dabei“, Nr. 21/1973
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