RotFuchs 227 – Dezember 2016

Rede auf der Konferenz des Ostdeutschen Kuratoriums
von Verbänden (OKV) vom 17. November 2016

Sozialistisches Eigentum

Prof. Dr. Götz Dieckmann

Im zweiten Kapitel des Kommunistischen Manifests heißt es: „In diesem Sinn können die Kommunisten ihre Theorie in einem Ausdruck: Aufhebung des Privateigentums, zusammenfassen.“1)

Es ist wichtig, ins Bewußtsein zu heben, warum dieser Satz mit den Worten In diesem Sinn eingeleitet wird. Denn im gleichen Kontext betonten Marx und Engels, Überwindung bisheriger Eigentumsverhältnisse sei kein kommunistisches Alleinstellungsmerkmal; alle Eigentumsverhältnisse unterliegen beständigen geschichtlichen Veränderungen; es handele sich keineswegs – wie von den Gegnern verleumderisch unterstellt – um Beseitigung des Eigentums überhaupt, sondern um die des bürgerlichen, des kapitalistischen Eigentums; das Kapital ist der letzte und vollendetste Ausdruck der Erzeugung und Aneignung der Produkte, die auf Klassengegensätzen, also auf Ausbeutung der einen durch die anderen, beruht; es gehe nunmehr also nicht um die Abschaffung von persönlich erworbenem, selbsterarbeitetem Eigentum, das im allgemeinen Bewußtsein die Grundlage aller persönlichen Freiheit, Tätigkeit und Selbständigkeit bilde. Zu beantworten sei jedoch die Frage, ob die Lohnarbeit, die Arbeit des Proletariers, ihm Eigentum schaffe. Das sei keineswegs so. Die Lohnarbeit schafft das Kapital, welches die Lohnarbeit ausbeutet, und dieses kapitalistische Eigentum kann sich nur unter der Bedingung vermehren, daß es neue Lohnarbeit erzeugt, um sie von neuem auszubeuten. Dieses bürgerliche Eigentum bewegt sich allein innerhalb des Gegensatzes von Kapital und Lohnarbeit.

Marx-Engels-Denkmal in Frunse (Kirgistan)

Marx-Engels-Denkmal in Frunse (Kirgistan)

Daraus leitet sich zugleich die Schlußfolgerung ab, Kapitalist zu sein bedeute nicht, nur eine rein persönliche – etwa charakterlich bedingte – Stellung in der Produktion einzunehmen. Das Kapital sei vielmehr ein gesellschaftliches Produkt, das letztlich nur durch gemeinsame Tätigkeit aller Mitglieder der Gesellschaft entsteht und sich reproduziert. Der sich ausprägende gesellschaftliche Charakter der Produktion verdeutlicht, daß in der bürgerlichen Gesellschaft die lebendige Arbeit nur ein Mittel ist, die aufgehäufte Arbeit zu vermehren. In der kommunistischen Gesellschaft werde die aufgehäufte Arbeit dagegen dazu dienen, den Lebensprozeß der Werktätigen zu erweitern, zu bereichern und zu befördern.

Karl Marx hat wiederholt klargestellt, die Kommunisten hielten die Proletarier keineswegs für Götter. Die Begründung der historischen Mission des Proletariats verlange vor allem, aufzudecken, was die Arbeiterklasse objektiv sei und was sie aufgrund ihrer Klassenlage schließlich zu tun gezwungen sein werde. Nur unter Beachtung der Gesamtheit dieser Gesichtspunkte wird deutlich, warum die Erringung der politischen Macht der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten zwingend notwendig, jedoch kein Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck ist.

Auch in den gegenwärtigen Schlachten dürfen wir keinen dieser Aspekte aus den Augen verlieren, wollen wir uns nicht gegnerischer Propaganda wehrlos ausliefern. Die Klassiker haben stets dem detaillierten Nachweis des Wandels der Eigentumsformen große Aufmerksamkeit geschenkt. Ich verweise auf das vierundzwanzigste Kapitel des ersten Bandes des „Kapitals“ in dem Karl Marx die ursprüngliche Akkumulation ausführlich analysierte. „Je ein Kapitalist schlägt viele tot“ lautet seine Schlußfolgerung bezüglich der geschichtlichen Tendenz des kapitalistischen Akkumulationsprozesses. Denn „Hand in Hand mit dieser Zentralisation oder der Expropriation vieler Kapitalisten durch wenige entwickelt sich die kooperative Form des Arbeitsprozesses auf stets wachsender Stufenleiter“.

Das bedeutet im einzelnen: die bewußte technische Anwendung der Wissenschaft; die Verwandlung der Arbeitsmittel in nur gemeinsam verwendbare Produktionsmittel kombinierter, gesellschaftlicher Arbeit; die Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarkts und die daraus resultierende Ausprägung des internationalen Charakters des Kapitalismus.

Daraus folgt letztlich: „Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch der Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse. Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.“2)

Die aus der kapitalistischen Produktionsweise entspringende Aneignungsweise, also das kapitalistische Eigentum, sei die erste Verneinung des individuellen, auf eigene Arbeit gegründeten Privateigentums. Mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses erzeuge der Kapitalismus jedoch einen erneuten fundamentalen Wandel. Es handele sich um Negation der Negation. Dabei werde allerdings nicht das Privateigentum wiederhergestellt, sondern das individuelle Eigentum auf der Grundlage der Errungenschaften der kapitalistischen Ära, der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel.

Die im Kapitalismus sich vollziehende Untergrabung und schrittweise Beseitigung des auf eigener Arbeit beruhenden Privateigentums ist ein unerhört langwieriger, harter und schwieriger Prozeß. Die Umwandlung des tatsächlich bereits auf gesellschaftlicher Produktion beruhenden kapitalistischen Eigentums in sozialistisches werde dagegen schneller vor sich gehen, denn damals handelte es sich um die Enteignung der Volksmasse durch wenige Aneigner, nun jedoch um die Enteignung weniger Usurpatoren durch die Volksmasse. Karl Marx wird es mir nicht verübeln, wenn ich im Lichte der Erfahrungen der vergangenen anderthalb Jahrhunderte zu dieser letztlichen Aussage anmerke, daß er den zeitlichen Horizont und die Schwierigkeiten der erneuten Umwandlung sehr optimistisch prognostiziert hat.

Zur Untermauerung dieser im „Kapital“ entwickelten fundamentalen Erkenntnisse dient auch Friedrich Engels’ 1884 veröffentlichtes Werk „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“. Die Zivilisation, so Engels, habe zunächst den Unterschied zwischen Rechten und Pflichten auch dem Blödsinnigsten klargemacht, indem sie einer Klasse so ziemlich alle Rechte zuwies, der anderen dagegen praktisch alle Pflichten. Das habe sich jedoch zunehmend als gefährlich erwiesen und solle deshalb nicht mehr sein. Und nun wörtlich: „Was für die herrschende Klasse gut ist, soll gut sein für die ganze Gesellschaft, mit der die herrschende Klasse sich identifiziert. Je weiter die Zivilisation fortschreitet, je mehr ist sie genötigt, die von ihr mit Notwendigkeit geschaffnen Übelstände mit dem Mantel der Liebe zu bedecken, sie zu beschönigen und wegzuleugnen, kurz eine konventionelle Heuchelei einzuführen, die weder früheren Gesellschaftsformen noch selbst den ersten Stufen der Zivilisation bekannt war und die zuletzt in der Behauptung gipfelt: Die Ausbeutung der unterdrückten Klasse werde betrieben von der ausbeutenden Klasse einzig und allein im Interesse der ausgebeuteten Klasse selbst; und wenn diese das nicht einsehe, sondern rebellisch werde, so sei das der schnödeste Undank gegen die Wohltäter, die Ausbeuter.“3)

Das Kapital agiert in dieser Richtung erfolgreich. Wie wäre es sonst zu erklären, daß Klassenkampf und Klassenbewußtsein für viele heute Fremdworte zu sein scheinen? Wie wäre es sonst möglich, daß in der Alltagssprache, wie selbstverständlich, Kapitalisten fälschlicherweise als Arbeitgeber, die Arbeiter hingegen sogar von Gewerkschaftern als Arbeitnehmer bezeichnet werden? Wie ist es zu werten, wenn etwas besser entlohnte Arbeiter sich ohne Widerspruch als Angehörige eines diffusen Mittelstandes einordnen lassen?

Treffender als Friedrich Engels können wir auch heute, unter der Last ständiger Berieselung aus unzähligen Massenmedien, diese Sachverhalte kaum darstellen. Hinzugekommen sind allerdings nicht enden wollende Hetzkampagnen zur Verteufelung der Deutschen Demokratischen Republik. Man ärgert sich natürlich jedesmal, wenn wieder eine solche Sau durch die Hecke getrieben wird. Doch als Dialektiker sollten wir stets fragen, warum der Gegner das über ein Vierteljahrhundert nach der Niederlage des europäischen Sozialismus mehr denn je für unabdingbar hält. Es gibt nur eine logische Erklärung: Die neuen alten Herren befürchten Schlimmes für ihr System. Uns dagegen sollte das mit Zuversicht erfüllen: Trotz alledem!

Ich empfehle, zur Eigentumsproblematik auch Karl Kautskys „Thomas Moore und seine Utopie“, die zwei Bände über „Die Vorläufer des neueren Sozialismus“, seine Begründung des Erfurter Programms der SPD und schließlich die 1909 erschienene Schrift „Der Weg zur Macht“ zu lesen. Denn erst 1912 vollzog Kautsky seinen schmählichen Schwenk zum Opportunismus und erfand den Ultraimperialismus. Schließlich landete er im Antisowjetismus, wie auch seine heutigen Gefolgsleute. Sie nennen sich jedoch Transformationstheoretiker, weil sie meinen, das klinge gefälliger. Halten wir fest: Die marxistisch-leninistischen Antworten auf die Fragen des kapitalistischen wie des sozialistischen Eigentums sind absolut folgerichtig.

Doch ebenso muß klar sein: Unsere Theorie hat, wie jede andere Gesellschaftskonzeption, natürlich ständig von neuem die Probe der Praxis zu bestehen. Könnte es nicht sein, daß trotz aller theoretischen Folgerichtigkeit die sozialökonomischen Bedingungen in den verflossenen Jahrzehnten sich so gravierend gewandelt haben, daß die revolutionären Schlußfolgerungen heute nicht mehr gelten? Diese entscheidende Frage ist in der Tat immer wieder, gestützt auf umfassende, allseitig überprüfbare Analysen, zu beantworten. Denn sonst wird man unsere Theorie entweder dogmatisch auffassen oder sie andererseits als eine originelle Konzeption ansehen, die nunmehr jedoch den ihr gebührenden Platz nur noch im Museum für Altertümer finden könne.

Wenden wir uns deshalb den aktuellen Tatsachen zu: Im Januar 2016, zu Beginn des „Weltwirtschaftsgipfels“ in Davos, veröffentlichte die keineswegs marxistisch orientierte Nichtregierungsorganisation OXFAM den sehr aufschlußreichen Bericht: „An Economy for the 1 %“.4)

Darin wird ausgeführt, die Kluft zwischen Arm und Reich werde in nahezu jedem Land der Welt immer größer. Die Geschwindigkeit, mit der das vor sich gehe, sei besorgniserregend. Ein 2015 vorgelegter Weltreport der Bank Credit Suisse ergab, im Folgejahr werde das reichste Prozent der Weltbevölkerung mehr besitzen als die restlichen 99 %. Tatsächlich sei diese Schwelle jedoch bereits mehrere Monate eher überschritten worden.

Das allein hätte die in Davos versammelten Herrscher der Welt wohl nur zu der bekannten zynischen Aussage veranlaßt, es sei nun einmal ein unabänderliches Gesetz menschlichen Lebens, daß es Leistungsträger auf der einen und Versager auf der anderen Seite gebe. Doch es sollte dicker kommen: OXFAM teilte mit, im Jahre 2016 besäßen lediglich 62 Einzelpersonen so viel wie die gesamte ärmere Hälfte der Erdbevölkerung. Ein Jahr zuvor seien das noch 80 Superreiche gewesen. Das Gesamtvermögen der ärmeren Hälfte der Menschheit ist in den letzten fünf Jahren um 38 Prozent, das sind eine Billion Dollar, geschrumpft, obwohl die Erdbevölkerung um 400 Millionen Menschen gewachsen sei. Gleichzeitig habe sich das Vermögen der 62 Reichsten um mehr als eine halbe Billion Dollar erhöht.

Ich gestatte mir anzumerken: Wir müssen angesichts dieser Fakten nicht im dunkeln tappen, wenn es um die Aufdeckung der entscheidenden Ursachen für die gegenwärtige größte Völkerwanderung in der Geschichte der Menschheit geht. Verfolgt man nun aber die Diskussion zu diesen von OXFAM dargelegten katastrophalen Tatbeständen, so überrascht eine fast absolute Totenstille. Auch die skrupellosesten Zyniker wagen es nicht, erneut mit der Leistungsträgermasche aufzutreten: Denn wenn man diese arme Hälfte der Weltbevölkerung – zirka 3,6 von 7,2 Milliarden – den fünf Dutzend Halbgöttern persönlich zuordnet, sind das pro Kopf 58 Millionen Menschen.

Lediglich ein Argument wird genannt, das sachlich zu beachten ist: Das ist der scheue Verweis, die Berechnungsgrundlage bei OXFAM sei insofern anfechtbar, weil das Vermögen dieser 62 Magnaten zum größten Teil in Aktien angelegt sei. Ein Börsencrash wie im Jahre 2008 könne bewirken, ihre Zahl wieder auf – sagen wir – 80 ansteigen zu lassen.

Das ist in der Tat denkbar. Denn auch das wissen wir ja von Karl Marx: Eine zentrale Funktion zyklischer Krisen ist es, durch vorübergehende Kapitalvernichtung das kapitalistische System gewaltsam wieder auf jenen Punkt zurückzuführen, von dem aus es weitermachen kann. Die Kurve der Zuspitzung in der Gesamtbewegung des Kapitals verläuft in der Tat nicht gleichmäßig als Gerade, sondern wellenförmig. Das ändert jedoch, wie die Realität ausweist, nicht das geringste an der von Marx aufgedeckten dynamischen Zuspitzung des Grundwiderspruchs. Diese Erkenntnis ist – auch wenn natürlich weiterführende Erkenntnisse, über die Digitalisierung, die Umweltproblematik usw. einbezogen werden müssen – von größtem Gewicht für den Nachweis der unveränderten Gültigkeit unserer revolutionären Theorie.

Betrachtung der Eigentumsfrage in der Geschichte heißt keineswegs, nur klassische Philosophie, utopischen Sozialismus, christliche Schwärmer usw. ins Auge zu fassen. Wir sind gehalten, auch jene Denker zu berücksichtigen, die keinerlei Schlußfolgerungen in Richtung Sozialismus formulierten. Da kann man auf mancherlei Verblüffendes stoßen. Ich nenne beispielsweise Aussagen Jean-Jacques Rousseaus in seinem 1750 verfaßten Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. Dort heißt es: „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und auf den Gedanken kam zu sagen ,Dies ist mein‘ und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Begründer der zivilen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Morde, wie viele Leiden und Schrecken hätte nicht derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: Hütet euch davor, auf diesen Betrüger zu hören. Ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören und daß die Erde niemandem gehört!‘“5)

Konkurrenz und Rivalität auf der einen Seite, Gegensatz der Interessen auf der andern und stets das versteckte Verlangen, seinen Profit auf Kosten anderer zu machen, alle diese Übel seien Wirkungen des Eigentums und Folgen der unvermeidlich entstehenden Ungleichheit. Rousseau kam dennoch zu dem Schluß: Das lasse sich nunmehr nicht mehr rückgängig machen. Möglich und notwendig sei jedoch ein auf Vernunft aller Beteiligten gegründeter Gesellschaftsvertrag, der diese üblen Folgen begrenze und steuere. Das schrieb der große Aufklärer und Wegbereiter der französischen Revolution von 1789 und reflektierte damit die Tatsache, daß die industrielle Revolution lediglich erste Schatten warf und der Kapitalismus damals unzweifelhaft eine progressive Gesellschaftsformation war.

Und auch beeindruckende Überlegungen des gerade 25jährigen Wilhelm von Humboldt aus dem Jahre 1792 will ich hier anführen, die ungeachtet ihrer bürgerlich-idealistischen Ausrichtung Beachtenswertes hinsichtlich des Eigentums, auch des sozialistischen, zu vermitteln vermögen. Er schrieb: „Alles im Menschen ist Organisation. Was in ihm gedeihen soll, muß in ihm gesäet werden. Alle Kraft setzt Enthusiasmus voraus, und nur wenige Dinge nähren diesen so sehr, als den Gegenstand desselben als ein gegenwärtiges, oder künftiges Eigenthum anzusehen. Nun aber hält der Mensch das nie so sehr für sein, was er besitzt, als was er thut, und der Arbeiter, welcher einen Garten bestellt, ist vielleicht in einem wahreren Sinne Eigenthümer als der müßige Schwelger, der ihn genießt.“6)

Gibt es hier nicht einen Zusammenhang mit Lenins wiederholten Hinweisen, der sozialistische Staat sei nur dann stark, wenn seine Bürger alles wüßten, es verstünden, und auf dieser soliden Basis bewußt handelten. Im Umkehrschluß heißt das doch: Wenn sie vieles nicht wissen, Entscheidendes zunehmend auch nicht mehr verstehen, dann werden sie aufhören, bewußt zu agieren. Das haben wir schmerzlich erfahren, und das gebietet uns, diesbezügliche schwere Fehler in der nächsten Runde unter allen Umständen zu vermeiden.

Humboldts Aussage regt zudem dazu an, etwas zu der gelegentlich unter Sozialisten verbreiteten Stimmung zu sagen, in der ersten Phase der den Kapitalismus ablösenden Gesellschaftsformation sei jeglichem überdurchschnittlichem Wohlstand mit Argwohn und Ablehnung zu begegnen. Das ist, um es deutlich auszusprechen, keine marxistische Haltung.

Ein Beispiel: Wenn ein begabter Maler mit eigener Hand, Pinsel, Leinwand und Farbe, Bildwerke schafft, die ihm begeisterte Anhänger zu stattlichen Preisen abkaufen, dann kann er natürlich ein reicher Mann werden. Das ist nicht im geringsten anrüchig, denn sein Wohlstand hat mit Ausbeutung nichts gemein. Seine Mitbürger sollte es freuen, wenn er ohne jegliche Sorge um den Lebensunterhalt seinem künstlerischen Genius freien Lauf lassen kann. Das gilt aber nur unter der Voraussetzung, daß er nicht sein Geld unverzüglich in Kapital verwandelt.

Was persönliches, selbsterarbeitetes Eigentum betrifft, gibt es auch einen weiteren Bezug zwischen der Aufklärung und der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, deren hundertsten Jahrestag wir 2017 feiern. Ich verweise auf das von Lenin unterzeichnete Dekret über den Grund und Boden, das neben dem Dekret über den Frieden, der Deklaration der Rechte der Völker Rußlands und den Bestimmungen über die Arbeiterkontrolle den Sieg im Roten Oktober verbürgte. Der Text des Bodendekrets ist nicht von den Bolschewiki verfaßt worden. Es übernahm unverändert wörtlich einen Wählerauftrag des Allrussischen Sowjets der Bauerndeputierten. Die große Mehrheit in diesem Sowjet stellten jedoch noch im August 1917 die Sozialrevolutionäre.

Im ersten Absatz hieß es: „Das Privateigentum an Grund und Boden wird für immer aufgehoben, der Boden darf weder verkauft noch gekauft, weder in Pacht gegeben noch verpfändet, noch auf irgendeine andere Weise veräußert werden. Der gesamte Boden: die Staats-, Apanage-, Kabinetts-, Kloster-, Kirchen-, Possessions-, Majorats-, und Privatländereien, das Gemeinde-, und Bauernland usw., wird entschädigungslos enteignet, zum Gemeineigentum des Volkes erklärt und allen, die ihn bearbeiten, zur Nutzung übergeben.“7)

Anzumerken ist: In der DDR ist das Land der werktätigen Bauern zu keinem Zeitpunkt, auch nicht nach deren Eintritt in eine LPG, nationalisiert worden. Das hindert jedoch manchen Zeitgenossen keineswegs, nach dem konterrevolutionären Umschwung zu behaupten, er sei damals enteignet worden. Unbestreitbar ist hingegen: 1990 wurde von der vorletzten Regierung der DDR verfassungswidrig die Treuhandanstalt gegründet und damit faktisch das sozialistische Volkseigentum – das Ergebnis jahrzehntelanger, mehr bzw. bei manchen auch weniger engagierter Arbeit aller Bürger – für herrenlos erklärt. Die Kohl-Regierung und ihre willigen Vollstrecker mußten nur noch Ausführungsbestimmungen modifizieren, um eine dritte Negation des Eigentums, die kompromißlose Wiederherstellung der Herrschaft des Kapitals, in die Tat umzusetzen. Würde ich diese Abläufe im einzelnen interpretieren, müßte ich sehr scharfe Formulierungen verwenden. Darauf will ich verzichten.

Abschließend sei der Blick vielmehr auf die früheste Phase kapitalistischer Entwicklung, das Zeitalter der Renaissance und der Reformation, gerichtet, weil bereits damals die Eigentumsproblematik eine bedeutende Rolle spielte. Ins nächste Jahr fällt ja auch das 500. Reformationsjubiläum.

Es steht natürlich außer Frage: Alle namhaften Akteure der Reformation, Jan Hus, Martin Luther, Johannes Calvin und auch der entschieden revolutionäre Thomas Müntzer, sind stets von religiösen Motiven angetrieben worden. Doch sie lebten in einer Zeit der Umbrüche und reflektierten theologisch die frühbürgerliche Revolution und den Großen Deutschen Bauernkrieg. Es gilt demzufolge der Frage nachzugehen, warum Karl Marx schrieb, der Reformator Dr. Martin Luther sei „der älteste deutsche Nationalökonom“ gewesen.8) Es ist wichtig, zu erfassen, welche sozialökonomischen Inhalte sich hinter Luthers scharfzüngigen Tiraden gegen den Wucher und den Mammon verbargen.

Ein Mindestmaß an Bibelfestigkeit kann sich als nützlich erweisen. Die Evangelisten Matthäus (Kapitel 6/Abschnitt 24) und Lukas (Kapitel 16/Abschnitt 13) bezeugen ja eindrucksvoll, wie Jesus Christus in seiner Bergpredigt eine klare Scheidelinie zwischen Gut und Böse zog: Niemand kann zwei Herren dienen, Gott und dem Mammon.

Gelegentlich ist man gut beraten, Diskussionspartner nicht gleich mit Marx- und Lenin-Zitaten zu erschrecken. Richten wir also den Blick auf das Jahr 2017 und auf beide Jubiläen: Es ist viel zu tun, packen wir’s an!

Prof. Dr. Götz Dieckmann

  1. MEW, Bd. 4, S. 475
  2. MEW, Bd. 23, S. 790 f.
  3. MEW, Bd. 21, S. 172
  4. Ein Wirtschaftssystem für die Superreichen. https://www.oxfam.de/system/files/20160118-wirtschaftssystem-superreiche.pdf
  5. J.-J. Rousseau: Discours sur l’Origine et les Fondements de l’Inegalitè parmi les Hommes. Paris 1977
  6. Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau 1851, S. 20
  7. Die ersten Dekrete der Sowjetmacht. Berlin 1987, S. 55
  8. Karl Marx: Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie. Berlin 1974, S. 891