Was der Publizist Erich Kuby 1984 für undenkbar hielt
Stell dir vor, die Mauer ist weg
Was die „Wiedervereinigung“ angeht, lautet die Bonner Sprachregelung: In diesem zentralen Problem der „deutschen Frage“ sind wir der vollen Unterstützung aller unserer westlichen Verbündeten sicher. Sie wünschen sich ein Europa, in dem 75 Millionen Deutsche nach einer Pfeife tanzen mit Berlin als der wieder zur Reichshauptstadt ernannten Machtzentrale. In Wahrheit können die westeuropäischen Regierungen es nur deshalb hingehen lassen, daß sie von Bonn aus zu Helfershelfern der „Wiedervereinigung“ ins politische Spiel gebracht werden, weil sie damit nichts riskieren.
In der operativen Politik kommt eine Zielansage „Wiedervereinigung der Deutschen“ nicht vor. Es besteht also auch keine Notwendigkeit, den Westdeutschen zu sagen, sie sollten Sonntagsreden nicht zu Märchenerzählungen werden lassen. Aber gelegentlich geht doch einem unserer ausländischen Freunde im Anhören schlichter Unterschlagung der Wahrheit der Gaul durch, und wenn das geschieht, ertönt Ach- und Wehgeschrei. 1984 ist es der italienische Außenminister Andreotti, der seiner Zufriedenheit darüber Ausdruck gab, daß es zwei Deutschland gibt (siehe RF 201, Extra II).
Andreotti hat eine Wahrheit zur Unzeit wiederholt. Der französische General Koenig, Chef der vierten Besatzungszone, hatte das gleiche im Dezember 1946 noch deutlicher gesagt: „Jene Deutschen, die eine verhängnisvolle Einheit des Deutschen Reiches wiederhergestellt sehen wollen, früher oder später, sind Pangermanisten, nicht Demokraten, selbst wenn sie guten Glaubens sind.“
So reden unsere NATO-Verbündeten nicht mehr, aber so denken sie. Sind unsere Bonner Demokraten weit davon entfernt, Pangermanisten zu sein, guten Glaubens, was die Möglichkeit der „Wiedervereinigung“ betrifft? Nie werden sie daran zweifeln lassen. Nehmen wir ihnen ab, daß ihre Empörung mehr ist als Taktik. Denken sie also wirklich an einen neuen deutschen Staat, formiert aus BRD und DDR, so sollten sie einmal sagen, wie sie ihn sich konkret vorstellen. Wissen sie, daß er, obschon eine Demokratie im westlichen Sinn, keineswegs eine bis an die Oder vergrößerte BRD wäre?
Gewisse Grundtatsachen müssen als unveränderlich angesehen werden. Dazu gehört, daß dieses neue Deutschland, das es in diesen Grenzen noch nie gegeben hätte, eine Übereinkunft der beiden Weltmächte in der deutschen Frage voraussetzt. Das bedeutet, daß dieses Gebilde weder der NATO noch dem Warschauer Pakt angehören könnte. Die Großmächte wachten über seine Neutralität zwischen den Blöcken.
Erst Wahlen zu einem gesamtdeutschen Bundestag würden zeigen, daß die CDU keine Chance mehr hat, an die Regierung zu kommen. Die SPD würde, erreichte sie nicht die absolute Mehrheit, vermutlich mit der CSU koalieren. Die Kommunisten kämen etwa zur Position der Grünen von heute. Der Bundeskanzler könnte Bahr heißen, der Bundespräsident Brandt, Honecker gäbe einen in mancher Hinsicht hervorragenden Innenminister ab.
Die enorm vergrößerte Macht der Gewerkschaften, die nicht umhin könnten, die sozialistischen Errungenschaften, auf denen das solide Sozialgefüge der DDR beruht, in ihre Strategie einzubeziehen, würde die Industrie das Fürchten lehren.
Die Arbeiter der DDR hätten zwar plötzlich die Möglichkeit, sich ohne Wartezeiten einen Wagen zu kaufen, aber wenn sie ihre Lohntüte auf dem häuslichen Küchentisch ausleerten oder mit der Ehefrau den Lohnstreifen diskutierten und die verdiente Summe auf ihre verschiedenen Bedürfnisse aufteilten, würden sie erkennen müssen, daß zahlreiche Posten, vor allem die Miete, plötzlich um das Mehrfache angewachsen sind. Das bringt Familienprobleme mit sich.
Die in diesem Punkt verwöhnten DDR-Deutschen würden das gesamte Immobilienwesen so kritisch beurteilen, daß es geändert werden müßte. Vom Bauherrenmodell auf Kosten der Allgemeinheit wäre fürderhin nicht mehr die Rede. Die Makler der BRD würden sich allerdings am ersten Tag, an dem die deutsch-deutsche Grenze fiele, wie die Ratten über die DDR hermachen und für ein Ei und ein Butterbrot ganze Wohnblöcke aufkaufen, die sie nach Jahr und Tag mit ungeheurem Gewinn wieder abstoßen könnten.
Die Arbeiter der DDR würden schlagartig erfahren, womit sich jene der BRD allmählich abfinden müssen: Was Rationalisierung bedeutet. Die Arbeitslosigkeit würde sich von der Ostsee bis Thüringen ausbreiten.
Das gesamte Bildungswesen müßte revidiert werden, und die Diskussion über Gesamtschulen würde keine Rolle mehr spielen, weil es unter der Führung einer erstarkten, nach links sich öffnenden SPD keine anderen Schulen mehr gäbe.
Die Mauer und die Grenzbefestigung wären dort, wo sie sich heute befinden, selbstverständlich verschwunden. Die Regierung würde nach Berlin umziehen, und niemand in Europa würde so taktvoll sein, daran zu erinnern, was der langjährige französische Botschafter und nachmalige Hochkommissar François-Poncet 1946 geschrieben hat: „Deutschland wieder von Berlin her zu zentralisieren, hieße alle Lehren der Erfahrungen herausfordern und würde einem rachsüchtigen Deutschland wieder zur Macht verhelfen.“
Rachsüchtig war vielleicht schon damals das falsche Wort, aber sicher ist, daß es für ein „wiedervereinigtes“ Deutschland gelten wird, der Appetit käme beim Essen. Das heißt: Nach Ausbreitung bis zur Oder würde die Frage der Grenzen von 1937, die ja nicht einmal jetzt vom Tisch ist, eine ganz neue Dringlichkeit bekommen.
Selbstverständlich würden diesem neuen Staat von den Weltmächten Auflagen hinsichtlich seiner Rüstung gemacht, um zu verhindern, daß dieses Deutschland versuchen würde, die heutigen polnischen Westgebiete wieder zu deutschen Ostgebieten zu machen. Aber solche Auflagen hat es 1918 auch gegeben, sie wurden nur nicht eingehalten, auch nicht vor 1933. Eben daran hat Andreotti gedacht, wenn er es auch nicht gesagt hat.
Die Jugend in den heutigen beiden deutschen Staaten befände sich gegenüber dem Teil Deutschlands, der bisher nicht der ihrige war, etwa in der Situation 15jähriger Türken, die in der Bundesrepublik aufgewachsen sind, Deutsch wie ihre deutschen Kameraden sprechen und nun in die türkische Heimat zurückkommen. Die Stuttgarter hätten zwar in Dresden keine sprachlichen Schwierigkeiten, aber sie befänden sich in einem ihnen fremden Lande, weil es in vieler Hinsicht nicht zu einer Filiale der amerikanischen Zivilisation geworden ist. 40 Jahre DDR-Entwicklung lassen sich nicht auslöschen wie Kreideschrift auf einer Schultafel.
Ob jene, die Andreotti eine schlichte Wahrheit so übelgenommen haben, sich wirklich überlegt haben, worauf sie konkret abzielen, wenn sie von einem „wiedervereinigten“ Deutschland sprechen? Sie denken an die Freiheit für die Bewohner der DDR, zum Beispiel vorrangig an Ferienreisen nach Italien oder nach Kenia. Wahrscheinlich verwechseln sie Freiheit mit den Verhältnissen des Bonner Staates.
Ein gesamtdeutscher NATO-Staat, hochgerüstet gegen die Sowjetunion, läßt sich aber nicht einmal als Utopie ausdenken, ohne daß man sich damit lächerlich macht.
(Geschrieben 1984; wiederveröffentlicht in Erich Kuby: Mein ärgerliches Vaterland, Verlag Carl Hanser, München 1989)
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