RotFuchs 186 – Juli 2013

Stiglitz-Menü ohne Marxschen Pfeffer

Heinz Gliemann

Nobelpreisträger Joseph Stiglitz ist als kritischer und um Erkenntnis bemühter Wirtschaftswissenschaftler weltweit bekannt. Sein neues Buch „Preis der Ungleichheit“ gilt dem Bemühen, den Ursachen der Ungleichheit von Arm und Reich auf die Spur zu kommen, die Verteilung der Mittel unter den Menschen dieser Erde zu ergründen. Unbestreitbar ist: Sehr wenige Reiche werden immer reicher, und die Armeen der Armen und ärmer Werdenden wachsen ständig an. Zu den Folgen dieser Diskrepanz zählen für die Mehrheit der Menschen: Perspektivlosigkeit, Verzweiflung, Armut und Hunger.

Viele Ursachen des Auseinanderdriftens von Arm und Reich werden von Stiglitz mit Akribie und großer Faktenkenntnis belegt. Sprache und Wortwahl lassen erkennen, daß er für die Armen Partei ergreift, indem er die unmenschlichen Praktiken des kapitalistischen Systems verurteilt. So spricht er z. B. von „ausbeuterischen Kreditpraktiken“.

Großen Raum nehmen bei ihm die verschiedenen Arten der Gewinnerzielung ein. Dabei geht es um mehr oder weniger zwielichtige Methoden. Genannt werden das Verschenken der Ressourcen des Landes an wenige Reiche oder die Existenz von Monopolen, welche eine extreme Ausbeutung der Rohstoffvorkommen betreiben. Aber auch Finanzmanipulationen und -spekulationen ohne jegliche echte Leistung erbringen unwahrscheinlich hohe Gewinne. Auf diesem Gebiet ist der Autor Experte. Neben solchen mit der Wirtschaft verbundenen Reichtumsquellen gibt es weitere Felder, die das Raffen fördern. Es handelt sich um Möglichkeiten, die sich aus der Verzahnung von Staat und Wirtschaft ergeben. Beide werden von Stiglitz als naturgegeben betrachtet, obwohl sie ja dem Gesamtsystem des Kapitalismus entspringen. Eine in Staatshand befindliche Wirtschaft, die vom Interesse des Gemeinwohls ausgeht, kommt in seinen Überlegungen nicht vor. Er betrachtet den Staat als eine relativ demokratische Vertretung der Bürger und die Wirtschaft als Herrscher über Unternehmen verschiedener Kategorien in der Hand von Privateigentümern. Dabei läßt er die Reichen nicht zu kurz kommen. Ihre Begünstigung erfolgt über Steuern, Zölle und Subventionen sowie mit Hilfe spezieller Exportleistungen wie des Waffenhandels, bei dem die Unternehmer weder Absatzprobleme noch Profitrisiken kennen.

Wenn die Interessen des kapitalistischen Staates mit denen der Wirtschaft kollidieren, müssen Lobbyisten ran. In den USA gibt es allein 3100 mit der „Gesundheitsindustrie“ befaßte „Vermittler“ dieser Art – sechs auf jeden Kongreßabgeordneten.

Trotz einer Fülle von Argumenten und Anregungen, die Stiglitz präsentiert, zieht er fundamentale Erkenntnisse nicht zu Rate. So taucht in dem Buch der Name Karl Marx nur an einer Stelle kurz auf, wird aber zugleich wieder verabschiedet, ohne jede Erörterung seiner Gedanken. „Mit dem Entstehen einer riesigen städtischen Unterschicht wurde es dringend notwendig, neue Rechtfertigungen für Ungleichheit zu finden, insbesondere deshalb, weil Kritiker des Systems wie Karl Marx von Ausbeutung sprachen.“ Der aber wird als nicht mehr aktuell betrachtet und in die Vergangenheit verbannt. So einfach machen es sich die Gelehrten der Bourgeoisie! Besonders springt dabei der Umstand ins Auge, daß der Mehrwert, die Urquelle des Reichtums einer auf das Privateigentum an den Produktionsmitteln gegründeten Gesellschaft, total ignoriert wird. Stiglitz will das kapitalistische Privateigentum und die damit verbundene Machtkompetenz nicht angetastet wissen. Er verzichtet also darauf, die eigentlichen Ursachen für Arm und Reich offenzulegen.

Weiterhin ist kritisch anzumerken, daß er auch über die Entwicklung neuer demokratischer Gesellschaftsformen in einigen Ländern Südamerikas kein Wort verliert, obwohl gerade hier der Kampf gegen die Kluft zwischen Arm und Reich mit einigem Erfolg aufgenommen wird.

Die Fülle des durch Stiglitz erschlossenen Materials ist zweifellos von Wert. Der Hauptmangel des Buches aber besteht darin, daß fundamentale Sachverhalte ignoriert werden. Das sind vor allem das Privateigentum an den Produktionsmitteln als hauptsächliche Reichtumsquelle im Kapitalismus sowie die Marxsche Mehrwerttheorie als Grundlage zur Erklärung der Akkumulation, geht es doch nicht um Reformen. Es bedarf vielmehr revolutionärer Energie, um abermals ein sozialistische System ins Auge zu fassen.