Wie Maxim Gorki bereits um 1900 die Oktoberrevolution voraussah
Stolzer Vogel Sturmverkünder
Beim Aufsuchen der Ursprünge einer proletarisch-sozialistischen Literatur erscheint stets der Name des Dichters Maxim Gorki als einer der ersten. Zwar haben viele bürgerliche Autoren im 19. Jahrhundert – ob Charles Dickens, Émile Zola oder Wilhelm Raabe – in ihren Schriften scharfe Sozialkritik geübt. Sozialistischen Literaten bleibt es jedoch vorbehalten, eine Perspektive der Selbstbefreiung aus Unterdrückung und geistiger Knechtschaft zu entwickeln. Der 1868 im russischen Nishni Nowgorod geborene Alexej Maximowitsch Peschkow erfuhr in seinen Kindheits- und Jugendjahren Not und Gewalt. Sein mit dem ausgeplünderten russischen Volk geteiltes Los prägte das Leben und Schaffen des Dichters, der unter dem Namen Gorki (russ. der Bittere) Weltgeltung erlangte. Eine Schlüsselstellung nimmt sein Poem „Lied vom Sturmvogel“ ein – sowohl im Gesamtwerk Gorkis als auch in der proletarisch-sozialistischen Literatur.
Diese Edition einer Sondermarke widmete die Post der DDR 1968 Gorkis „Sturmvogel“.
Als das „Lied vom Sturmvogel“ um 1900 entstand, war sein Verfasser bereits ein in intellektuellen Kreisen anerkannter Schriftsteller. Doch anders als Gorkis spätere, realistische Werke, zum Beispiel der Roman „Die Mutter“ (1906) oder Dramen wie „Nachtasyl“ (1902) und „Wassa Shelesnowa“ (1910), spricht das „Lied vom Sturmvogel“ in bildhaften Gleichnissen: „Над седой равниной моря ветер тучи собирает. Между тучами и морем гордо реет Буревестник, черной молнии подобный.“ Bertolt Brecht hat es werkgetreu und kongenial ins Deutsche übertragen: „Ob der grauen Meeresebene / Treibt der Wind Gewölk zusammen. / Zwischen Wolkenzug und Wasser / Schießt der Vogel Sturmverkünder / Einem schwarzen Blitz vergleichbar.“ In freier, doch gestalterisch prägnant komponierter Sprachrhythmik folgen Verse, die fabelähnlich den Vorabend der Revolution besingen. Dunkle Wolken bedeuten die Düsternis und Bedrohlichkeit vor dem Losbrechen des revolutionären Sturmes. Tauchervogel, Möwe und Pinguin in den unterschiedlichen Charakterrollen der Kleinbürger, sie erschrecken, ängstigen und verbergen sich. Doch vergebens, denn „Finsterer und niedrer / Senken sich aufs Meer die Wolken / Und die Wasser steigen singend / Um dem Donner zu begegnen.“ Das aufgepeitschte Meer, das die revolutionäre Situation versinnbildlicht, ist das Lebenselement des Sturmvogels. „Denn er hörte in des Donners Grollen / Lange schon mit scharfem Ohr Erschöpfung. / Denn er weiß, es kann die Wolke niemals / Niemals, niemals eine Sonne decken.“ Für Sturmvögel (auch Albatrosse) ist ein Orkan auf hoher See der ihnen gemäße Lebensraum. Sie fliegen um so kraftvoller und sicherer, je heftiger und widriger die Windböen ihnen entgegenschlagen. Furchtlos und sieghaft scheint der Sturmvogel der entfesselten Elemente zu spotten. Seit Jahrhunderten haben diese Hochseevögel mit dem beeindruckenden Flugverhalten nicht allein für Seefahrer eine mythische Bedeutung.
Maxim Gorki (1868–1936) hat als Dreißigjähriger die Zeichen der herannahenden stürmischen Umwälzung mit genialer Weitsicht erkannt. Das Gedicht vom Sturmvogel verfaßte er, nachdem zaristische Truppen eine Protestdemonstration blutig niedergeschlagen hatten. Ob Gorki die obrigkeitliche Zensur zu überlisten trachtete und deshalb in seinen Versen die allegorische Umschreibung von Revolution und Sieg gewählt hat, wissen wir nicht. Sicher überliefert ist jedoch, daß sein Poem in den Versammlungen der russischen Revolutionäre vielfach vorgetragen wurde, die Zuhörer beflügelt und begeistert hat und daß „Sturmvogel der Revolution“ zum Ehrennamen für Maxim Gorki wurde. Seine Dichtung steht nicht allein ebenbürtig an Meisterschaft mit den besten Schöpfungen der Belletristik, Dramatik und Lyrik jener Zeit. Sie weist weit über jene Dekadenz- und Weltschmerzstimmung hinaus, die einer ganzen künstlerischen Strömung den Namen gab: Fin de siècle (Jahrhundert-Ende). Krisensymptome, die großen gesellschaftlichen Umwälzungen vorangehen, nahmen damals sehr wohl auch ein Rainer Maria Rilke, ein Romain Rolland oder ein Thomas Mann auf, und sie fanden ihren jeweils eigenen sprachlichen Ausdruck – von Zweifel und nostalgischem Rückzug über Niedergang und Verlorenheit bis Zorn und Empörung. Wohl verlautbart am Jahrhundertende viel romantische Regression und Naturverehrung. Ein „Vogel Sturmverkünder“ jedoch ist mit Maxim Gorki einzigartig: „Hoch hinschwebend zwischen Blitzen / Hoch hinschwebend über dem Gebrüll der Wasser / Schreit er, der Prophet des Sieges: / Tobe, Sturmwind! Tobe stärker!“
Nach dem Sieg der Revolution hat sich Gorki mitgestaltend und kritisch eingemischt. Er wirkte vor allem für die neue, sozialistisch-realistische Literatur. Zahlreiche Ehrungen wurden ihm zuteil. Neben vielen Namenspatronaten für Schulen, Straßen, Kulturinstitutionen ist die Benennung seiner Geburtsstadt Nishni Nowgorod in Gorki (zwischen 1932 und 1990) vielleicht die bedeutendste. Gorki förderte nicht nur zahlreiche sowjetrussische Autoren, sondern regte auch westliche fortschrittliche Literaten maßgeblich an, zum Beispiel Jack London, Anatole France oder Stefan Zweig. Eine der führenden Spielstätten der Berliner und der deutschsprachigen Theaterlandschaft trägt bis heute seinen Namen.
Meine persönliche Beziehung zu Gorkis Werk wurde lebensgeschichtlich früh zugrunde gelegt. Auf meiner Jugendweihefeier, die ins Jahr der 50. Wiederkehr der Oktoberrevolution fiel, sprachen Könner der Rezitation den „Sturmvogel“ – im Original und in Brechts Übertragung. Dichterische Meisterwerke haben die Kraft, einen Menschen lebenslang zu begleiten.
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