Vom Ethos einer irakischen Muslimin
Tahas Mutter
Der Schock hätte nicht größer sein können. Bagdad, die fremde Stadt, war für das aus dem Süden Iraks stammende Mädchen ein großer, Angst einflößender Moloch, der sie mit seinen vielen Menschen, hupenden Autos, ungewohnt hohen Häusern und nie abschwellendem Lärm zu verschlingen drohte. Ausgerechnet hier, just am Tag ihrer Ankunft, sollte sich ihr weiteres Schicksal entscheiden. Sie kam, um nach dem Willen der Eltern und des Oberhauptes einer fernen Verwandtschaft mit einem Mann verheiratet zu werden, den sie nie zuvor gesehen hatte. Ein Zurück gab es nicht.
Die Scheu vor der Stadt blieb, die Sehnsucht nach dem Duft der heimatlichen Erde auch, doch sie begriff, daß sie, die Analphabetin, lernen mußte, auf die eigene Kraft zu bauen. Neun Kinder hat Bahia Ali Rahak geboren. Das erste starb jung. Dann kam Taha auf die Welt. Ihm folgten noch sechs Jungen und zwei Mädchen.
Taha sitzt neben mir. Das Instrument, das er liebevoll berührt, scheint geradezu mit ihm verwachsen zu sein – eine arabische Kurzhalslaute, die er damals, zu Beginn der 80er Jahre, aus seiner Heimat mitbrachte. Er kam in die DDR und blieb. Nicht, daß es unbedingt sein Wunsch gewesen wäre, ins Exil zu gehen. Doch dafür gab es politische Gründe. Taha war wie alle seine Geschwister Mitglied der Irakischen Kommunistischen Partei. Vorbild war ihnen der Vater, der mit dem Ende der Monarchie 1958 so große Hoffnungen auf ein friedliches Miteinander der Menschen in einer freien Republik verband. Dafür setzte sich die KP, die zu dieser Zeit die stärkste marxistische Partei im Nahen Osten war, ein.
Immer öfter wurde das kleine betriebseigene Häuschen, das der Vater als Mitarbeiter eines Chemieunternehmens mit der Familie bewohnen durfte, zu einem Ort der Parteiarbeit. Dessen Türen standen auch der Nachbarschaft – Schiiten, Sunniten, Kurden – offen. Es war eine Zeit neuer mutmachender Erfahrungen, in der die Mutter lernte, zu ihrer Meinung zu stehen und diese auch gegenüber ihrem Mann zu vertreten. Daß sie an ihrem bäuerlichen Dialekt und der traditionellen Kleidung festhielt, hinderte sie nicht am Engagement im Frauenverband. Den Aktivistinnen dieser Organisation war es zu verdanken, daß Bestimmungen für die Durchsetzung von Frauenrechten in der Verfassung verankert wurden.
Doch die von Abdel Kerim Kassem geführte Revolution mündete in einen sich über Jahrzehnte hinziehenden widerspruchsvollen und von vielschichtigen Interessen geprägten Prozeß. Als 1963 das Militär putschte, begann eine mehr als drei Jahrzehnte währende Herrschaft der Baath-Partei, in der einerseits Bedeutendes für den Fortschritt und die Unabhängigkeit des Landes erreicht, andererseits Kriege wie der gegen Iran angezettelt wurden. Vor allem ist diese Periode von der Verfolgung der Kommunisten geprägt, die einen beispiellos hohen Blutzoll entrichten mußten. Der Vater gehörte zu den ersten, die man ins Gefängnis warf.
In dieser schweren Zeit waren es die Kinder, die der Mutter Halt gaben. Als die Familie ihr Heim verlor, halfen Verwandte, Unterschlupf in einer beengten Lehmhütte zu finden. Es fehlte an allem, so auch an Geld für die Behandlung der Lungenentzündung der vierjährigen Schwester, die sie aus eigener Kraft nicht besiegen konnte.
Trotz solcher Schicksalsschläge haben Tahas Eltern und seine Geschwister nie aufgehört, den Kampf der Partei zu unterstützen. Auch ihr neues „Zuhause“, die Lehmhütte, diente den Genossen als geheimer Treff. Hier waren sie relativ sicher, denn die Mutter schirmte sie ab, teilte mit ihnen das karge Essen, warnte, wenn Gefahr drohte.
1978 hat man Taha wegen seiner Kontakte zur KP verhaftet. Als er nach einem Jahr das Gefängnis verlassen konnte, war er sich sicher, daß sie wiederkommen würden. Einen seiner Brüder hatten sie schon geholt und ermordet.
Die DDR wurde für Taha zur zweiten Heimat. Heute lebt er, der Musikwissenschaftler, -pädagoge und Komponist, von Hartz IV. Aber immer noch gehört sein Herz der Musik, ohne die ein Leben für ihn nicht vorstellbar ist. Er bestritt Konzerte in mehreren europäischen Ländern und Städten des Nahen Ostens. Er schuf musikalische Arrangements für Theaterstücke, vertonte Werke von Dichtern seiner Heimat und komponierte Lieder für arabische Sänger.
1982, Taha war schon längst außer Landes, holten sie die gesamte Familie – Vater, Mutter, Kinder, Verwandte. Vier Jahre für die Mutter, lautete das Urteil. Ihren Peinigern hatte sie nichts als ihre Würde entgegenzusetzen, die sie auch unter der Folter nicht preiszugeben bereit war.
1990 verhängten die USA ein gnadenloses Wirtschaftsembargo über das Land, das dem Volk unsägliches Leid brachte. Mehr als eine Million Iraker, darunter 500 000 Kleinkinder, starben.
Für Tahas Familie ging es ums nackte Überleben. Wieder war es die Mutter, welche die Kraft aufbrachte, Tag um Tag das Nötigste – und wenn es nur Knochen waren, die sie irgendwo ergatterte –, zu beschaffen. Für ihren Mann gab es keine Hilfe mehr. Er erlag 1996 den Folgen der Haft.
Mit dem Sturz Saddam Husseins und der Besetzung des Landes durch die USA begann 2003 ein Krieg, dem über eine Million Menschen zum Opfer gefallen sind und der die politischen und sozialen Strukturen Iraks fast vollständig zerstörte.
Doch der nationale Widerstand organisiert sich mehr und mehr. Um diesen zu schwächen, schüren die USA ununterbrochen ethnische und konfessionelle Konflikte, die täglich Menschenleben fordern. Auch zwei Brüder Tahas, die 2006 zwischen die Fronten gerieten, wurden getötet – von einer Bombe.
Wenn Taha von seiner Mutter erzählt, spiegelt sich unendliche Liebe und Ehrerbietung in seinen Augen. In seiner Stimme schwingt tiefe Bewunderung für eine Frau, die trotz des großen persönlichen Leids niemals aufgegeben hat. Als gläubige Muslimin – heute ist sie 77 Jahre alt – hält sie zugleich an ihrer Überzeugtheit von der gerechten Sache der Kommunisten fest.
Die KP verlieh Bahia Ali symbolisch den Titel einer Generalin. Von der damit verbundene Rente spendet sie Monat für Monat zehn Prozent der Partei, damit der Kampf weitergeht und ihre Enkel eines Tages in einem Land leben können, das frei ist von Okkupanten, von Ausbeutung und Unterdrückung, von Angst vor Terror und Krieg.
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