Gorbatschows Perestroika und die Folgen
Totengräber oder Scharlatan?
Sein neues Buch „Das lange Sterben der Sowjetunion. Schicksalsjahre 1985–1999“ meint Reinhard Lauterbach, Korrespondent für Rußland und Osteuropa, sei „ein journalistischer Essay“, „keine Darstellung mit wissenschaftlichem Anspruch“. So erkläre sich der relativ breite Zugriff auf Memoirenliteratur von Akteuren der Perestroika. Die Primärquellen aus den letzten Jahren der Sowjetunion seien nur teilweise veröffentlicht „und dies im Auftrag der Gorbatschow-Stiftung“, so daß das Handeln des letzten Generalsekretärs der KPdSU und Staatsoberhaupts der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, und seiner Mannschaft „ins rechte Licht“ gerückt werde. Die besten Darstellungen stammen demnach mit Ausnahme der „Geschichte der Sowjetunion“ des Historikers Manfred Hildermeier von englischsprachigen Autoren. Den Grund dafür sieht Lauterbach darin, daß die deutschsprachigen „mit wenigen Ausnahmen geblendet davon“ seien, was Gorbatschow für Osteuropa und Deutschland „getan“ habe. Sie interessierten sich nur in zweiter Linie dafür, was er für sein Land bewirkt habe.
Das Buch des Historikers und Slawisten Lauterbach füllt so eine Lücke. Der Text liefert vor allem eine Skizze der Zeit zwischen der Wahl Gorbatschows zum Generalsekretär im März 1985 und dem Aufstieg Wladimir Putins zum Ministerpräsidenten und zum Präsidenten der Rußländischen Föderation im Jahr 1999. Der Autor legt einleitend sein methodisches Untersuchungs„besteck“ dar und greift durchgängig, vor allem aber im ersten Kapitel („Der Sozialismus als Dauerbaustelle. Die Vorgeschichte der Perestroika“), mit Bezug auf Stalins Schrift „Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR“ aus dem Jahr 1952 eine theoretische Frage auf: Welche Rolle spielten das Wertgesetz und Elemente der Marktwirtschaft im sowjetischen Sozialismus? Lauterbach beantwortet die Frage nicht eindeutig, meint aber offenbar, daß ihre Nichtbearbeitung zu jenem wirtschaftlichen Desaster beigetragen hat, mit dem das Ende der Sowjetunion eingeleitet wurde. Er charakterisiert jedenfalls seinen Band als einen Versuch, „die Geschichte des Verfalls und Untergangs der Sowjetunion als die Geschichte einer wachsenden Unzufriedenheit der sowjetischen Führung mit der von ihr selbst gestalteten Gesellschaftsordnung zu erzählen“. Der Kern seiner Argumentation sei, „daß Gorbatschow und sein künftiger Außenminister Edward Schewardnadse und die übrigen ,Reformer‘ einen Parteiflügel repräsentierten, der dem Land eine andere Staatsräson verpassen wollte“.
Den meist moralisch getönten Vorwurf des „Verrats“ streift Lauterbach und weist darauf hin, je massiver dieser erhoben werde, desto dünner seien die Beweise. So geistere eine Rede Gorbatschows durchs Internet, die er an der Amerikanischen Universität in Ankara 1999 gehalten und in der er erklärt habe, sein Lebensziel sei die Beseitigung des Kommunismus in der Sowjetunion gewesen. Das habe er schon zu Studentenzeiten mit seiner Ehefrau Raissa beschlossen. Das Problem: Diese Universität gibt es nicht. Lauterbach räumt ein, daß es belegbare Äußerungen Gorbatschows gibt, die „ein falsches Spiel“ nahelegen, etwa ein „Spiegel“-Interview aus dem Jahr 1993. Stets handele es sich aber um Selbstinterpretationen im nachhinein.
Der Autor geht davon aus, daß Gorbatschow und seine Unterstützer in der sowjetischen Führung Anfang der 80er Jahre im Kapitalismus ihrer Zeit, insbesondere in der „sozialen Marktwirtschaft“, ein positives Gegenbild zur eigenen Gesellschaftsordnung sahen. Lauterbach fragt daran anschließend, wieviel „Gegen“ in der sowjetischen Gesellschaft wirklich enthalten war und ob Gorbatschow „der Mörder des sowjetischen Sozialismus, sein Totengräber oder ein Scharlatan im Arztkittel“ gewesen sei. Auf jeden Fall habe das Programm des Fahnenwechsels „schöne Fensterreden“ ebenso eingeschlossen „wie politische Täuschungsmanöver“. Immerhin habe er in den Entscheidungsgremien der KPdSU nie eine Mehrheit besessen und habe darauf setzen müssen, „daß die schweigende Mehrheit weiter schwieg“. Lauterbach vergleicht Gorbatschows Strategie mit der, die Naomi Klein mit dem Begriff „Schockstarre“ für den Sieg des Neoliberalismus in der kapitalistischen Welt beschrieben hat: Eine entschlossene Minderheit nutzt soziale Katastrophen, um das, was sie ohnehin vorhat, ohne größeren Widerspruch durchzusetzen. Dabei würden zunächst beherrschbare Schwierigkeiten ignoriert, bis sie wirklich krisenhafte Ausmaße angenommen hätten. Das eigene Handeln werde dann als alternativlos dargestellt: „Gorbatschows monotoner Verweis auf ,das Leben‘, das dieses oder jenes verlange – und dem sich entgegenzustellen per definitionem zwecklos sei –, ist eine gewollte Begriffslosigkeit, die, wie mir scheint, weniger auf politische Dummheit als auf eine solche Strategie hindeutet.“
Für das Auseinanderbrechen der Sowjetunion habe er so die Voraussetzungen geschaffen, aber konkret gehandelt habe zum Schluß Boris Jelzin. Die Richtungsentscheidung „Mehr Markt!“ und „Weg mit dem Plan!“ habe die unbeabsichtigte Nebenfolge gehabt, daß die Nationalitätenprobleme „zu nicht vorgesehener Schärfe“ eskalierten. Nicht zu vergessen sei schließlich „der Faktor Pech“: Erstens der von den USA und Saudi-Arabien gezielt herbeigeführte Fall des Ölpreises in den 80er Jahren. Der wurde zum „Erfolg“ durch die Fehlentscheidung vor Gorbatschows Zeit, auf den Rohstoffexport zu setzen und sich damit in die Position eines Entwicklungslandes zu begeben. Zweitens sei das Reaktorunglück von Tschernobyl im April 1986 zu nennen, dessen Bewältigung den Fünfjahrplan irreversibel durcheinanderbrachte. Drittens das schwere Erdbeben in Armenien vom Dezember 1988, das 25 000 Tote und eine in großen Teilen zerstörte Unionsrepublik hinterließ.
In den sieben Kapiteln des Buches, hinzu kommen Prolog und Epilog, schildert Lauterbach chronologisch die Ereignisse kenntnisreich, einprägsam durch die Klarheit seiner Thesen und stilistisch souverän. Das Buch ist eine Fundgrube. An dieser Stelle sei nur hervorgehoben, daß der Zusammenhang zwischen Gorbatschows Wirtschaftspolitik und dem daraus resultierenden Hochkochen der sehr unterschiedlichen Nationalismen etwa in Zentralasien und in den baltischen Unionsrepubliken hier zwingend und zugleich differenziert analysiert wird. Lauterbachs Buch wird von den grundsätzlichen Fragen getragen, die er aufwirft und denen er, gestützt auf die reale Entwicklung, nachgeht, ohne sich in Einzelheiten zu verlieren. Er beendet es mit der Szene aus Brechts „Flüchtlingsgesprächen“, in der Ziffel und Kalle auf den Sozialismus anstoßen. Nüchtern, realistisch, aber nicht ohne Leidenschaft.
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