RotFuchs 216 – Januar 2016

Tränen für Paris

Alex Volkmann

Sender Gleiwitz, Oktoberfest in München, Disko La Belle in Westberlin, U-Bahn von Tokio, ein Vorstadtzug Madrids, Stadtzentren von Belfast, Beirut, Kapstadt, Grosny, Tel Aviv und Jerusalem …

Marktplatz von Srebrenica, Schule von Beslan, auf der Ferieninsel Utøya nahe Oslos …

Flugzeugabstürze auf Kamtschatka, bei Lockerbie, vor Libanon und in der Ostukraine … Fast wöchentliche, manchmal tägliche Meldungen von Sprengstoffattentaten in Irak, Syrien, Afghanistan, Pakistan … Menschen, Tote, Zahlen, Statistik.

Tagtägliche Meldungen über Terror von Menschen – gegen Menschen. Oradour, Son My, Babi Jar, Auschwitz!

Welche andere Spezies auf diesem Erdball schlachtet sich dermaßen radikal ab – wie die Menschheit?

Mal schwarze Witwen, mal sprengstoffbeladene Selbstmordattentäter, mal Autobomben und mal sogenannte Sondereinheiten, mal religiöse Fanatiker und mal Geheimdienstagenten, mal Drohnen (als seien hier unausweichliche Insektenattacken gemeint …) und mal Kommandounternehmen, mal Terrorzellen und mal rechtsradikale Mörderbanden – bisweilen sogar im Sold des Verfassungs„schutzes“…

Teil eines heißen Krieges – inmitten des fortwährend Kalten?

Überraschende Attentate – putschendes Militär … und unheimliche Mörderbanden …

Warum sind es eigentlich immer die Liebknechts, die Olof Palmes und Kennedys, die Lumumbas und Allendes, die solchen zum Opfer fallen? Warum sind es eigentlich nie die Noskes, Stoltenbergs, Reagans, Globkes und Pinochets? Warum immer Krause, warum nie Krupp?

40 Jahre lang hat eine Mauer mich von solchen Ereignissen physisch getrennt – wie unmenschlich! Mein Leben war durch solche Zeitungsmeldungen nicht bedroht. Es gab garantierte Staatssicherheit. Nun endlich, mit der Demokratie und der freiheitlichen Ordnung, rückt der Wahnsinn mir auf die „Pelle“, der Überraschungstod lauert überall ganz konkret. „Wir sind potentielles Ziel“, sagen mir deutsche „Dienste“ – Dienst kommt von „dienen“ – wem dienen die eigentlich? Der Anlässe, Motive und Variationen gibt es viele – arrangiert? Synchronisiert? Inszeniert? Kultiviert? Observiert? – Ungeniert! … und immer wird „zurückgeschossen …“

Karikatur: Klaus Stuttmann

Über allem thront für mich mein weiser alter Professor. Ich höre ihn: „Wie immer und regelmäßig: 10 bis 15 Jahre nachdem sie die USA erreicht hat, kommt die Welle in Europa an.“

Nun also ein zweites Mal nach „Charlie hebdo“ im Sündenpfuhl des Eiffelturms und der Wiege aller bürgerlichen Werte … Die Welt bäumt sich auf … So zeigt sie mir die Television. Wo war diese Betroffenheitswelt, als die Hutus die Tutsis abschlachteten – ein ganzes Volk! Oder war es etwa andersherum?

Wo waren die Tränen der Betroffenheit, als afghanische Mütter ihre kleinen Benzindiebe beweinten, die Oberst Klein, bevor er zum General Klein wurde, in den Tod bomben ließ?

Wer beleuchtete das Brandenburger Tor in den Farben Libyens, als französische Bomber, jenseits vom Völkerrecht, die Töchter der Wüste und deren Kinder töteten?

Wo ist die „Stockstarre der westlichen Welt“ – wenn in Syrien Muslime andere Muslime mit deutschen Waffen töten?

Wo lagen die Kondolenzbücher für doppelt so viele tote russische Urlauber auf dem Sinai wie tote Pariser?

Welche Sonderkorrespondenten zeigten uns die Bombenschäden deutscher Piloten in Belgrad, und welches Interview wurde mit dem KSK-Kommandeur geführt, der in Afghanistan bereits töten ließ, als Deutschland sich angeblich noch gar nicht am Krieg beteiligte? Wofür bekamen sie amerikanische Orden?

Attentäter, Terroristen – Enttäuschte, Entrechtete, Betrogene, Gedemütigte, Verzweifelte, Hoffnungslose und Fanatiker … Sind sie alle „nützliche Idioten“ für Vorwände jedweder Art?

Wer Wind sät, so heißt es, wird Sturm ernten. Wer glaubt, in der islamischen Welt ohne Legitimation töten zu dürfen, mit Drohnen und Bomben und deutschen „Milan“ – muß sich nicht wundern, wenn man auch ihm mit Waffengewalt wahllos antwortet.

Wie viele „Euronen“ hat uns deutsche Steuerzahler jedes getötete afghanische Kind vor den Füßen von Herrn Klein gekostet? Man spricht von 5000 Dollar.

Ach bitte, saudische Majestäten, verrechnet doch auch Ihr Eure Baukosten für neue deutsche Moscheen mit den Toten von Paris, dies scheint legitim, ganz rechtstaatlich, orientalisch, basargemäß …

Jetzt endlich hat Europa „seinen“ 11. September … Es wird nicht der Letzte sein!

Und niemand wird mehr wagen zu fragen, wo all die Polizei plötzlich herkommt, die sonst im Alltag fehlte … wen sie mit ihren Waffen schocken wollen. Militarisierte Polizei und Polizeiaufgaben fürs Militär. „Äußerer“ und „innerer Feind“ – beliebig. Ausnahmezustand ohne Richtervorbehalt!

Und keine Opposition wird mehr infrage stellen, daß Daten grenzenlos kontrolliert werden.

Big Brother ist nicht mehr „watching you“, er geht dazu über, die Unterschriften der Lämmer einzusammeln – für das Erfordernis ihrer eigenen Schlachtung, für die Notwendigkeit von „Wolfsrudeln“ und Heerscharen von „Hütehunden“.

Und „phoenix“ bläst uns seit Jahren den Marsch dazu … Und stimmt uns ein, mit Bildern vom Führer und seinen Getreuen, seinen Hunden, seinen Mädels, seiner Jugend, seinen Köchen, seinen Ärzten, seinen Sorgen und seinen Guido Knopps …

Die Betroffenheit, so scheint es, bekommt Schlagseite … für eine vom besoffenen Liebhaber im Autotunnel ums Leben gebrachte britische Prinzessin werden mehr Tränen vergossen als im Nachhinein für die Abertausenden toten englischen Kinder, die in den Fabriken und Kohleschächten des 19. Jahrhunderts den Reichtum der Eigner zusammenkratzten. Wie schnell verschwinden die tausend totgeprügelten Kinder – hierzulande und anderswo – hinter dem Bild vom einen ertrunkenen kleinen Flüchtling. Heute sind es als also unsere Tränen für Paris …

Und morgen?