Transatlantische Sittenbilder
Den titelgebenden Satz seines Buches „Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet“ entnahm Werner Rügemer einer Rede, die 1886 bei der Aufstellung der Freiheitsstatue im Hafen von New York gehalten wurde. Er zitiert sie in einem Beitrag zum hundertsten Jahrestag des Ereignisses, den der WDR im Sommer 1986 ausstrahlte, kurz nachdem der „nationalistische Rausch“ des damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan aus der Feier zum Unabhängigkeitstag der USA am 4. Juli eine Drei-Tage-Party für 5000 geladene Gäste gemacht hatte. Rügemer und sein Koautor Heinz Thoma schrieben damals: „Da feierten sich die Propagandisten und Profiteure der individuellen unternehmerischen Freiheit, die ohne Staatsknete und ohne die Beschränkung der Freiheit anderer aber gar nicht möglich wäre.“ Der Schluß dieses Textes erinnert jedoch an die Koalition gegen den Faschismus, an der auch die USA beteiligt waren, und fährt fort: „Eine solche Koalition ist heute ganz neu zu entwickeln, damit nicht ein Atomblitz die Welt im Namen der Freiheit – der einen, besonderen Freiheit – ein letztes Mal erleuchtet.“
Es sind 40 Beiträge aus den vergangenen 30 Jahren, die in diesem Sammelband zusammengestellt wurden. Diejenigen von ihnen, die sich mit sozialen, politischen oder wirtschaftlichen Zuständen befassen, besitzen eine unbehagliche Aktualität. Sie besagen: In entscheidenden Fragen hat sich wenig bis nichts geändert, obwohl die Welt eine andere wurde. Im Untertitel heißt das Buch „Transatlantische Sittenbilder aus Politik und Wirtschaft, Geschichte und Kultur“. Ein Wimmelbild aber, in dem Betrachter die Orientierung verlieren könnten, ist es trotz der Themenfülle nicht. Es gibt einen Leitfaden, der im ersten Text des Bandes, 2005 geschrieben, unter dem programmatischen Titel „Arbeit im schalltoten Raum“ von Rügemer so formuliert wird: „Der Kostenfaktor Arbeit soll nicht denken, nicht fühlen, kein Bild von sich selbst und von denen machen, die ihn so behandeln. Der Kostenfaktor hat im buchstäblichen Sinne nichts zu sagen: Er muß schweigen. Das tut er auch. Er lebt in einem echolosen, schalltoten Raum.“ Am Schluß heißt es: „Das Schweigen der Arbeit und auch der Demokratie wird erst dann aufgehoben, wenn aus Kostenfaktoren und Almosenempfängern, ob arbeitend oder arbeitslos, vollgültige Mitglieder der Gesellschaft werden, die selbst und selbstbewußt öffentlich sprechen können. Das Schweigen der Arbeit endet erst dann, wenn die Arbeit ein Menschenrecht ist, das wirksam und für alle eingefordert werden kann.“
Wer nach Satirischem, Nachdenklichem, Groteskem, Empörendem in der jüngeren Geschichte stöbern will: Hier findet er Vergessenes, Unbekanntes, Neues. Vom Besuch im Silicon Valley 1985 bis zur Warnung vor dem „Euro-Delirium“ 1997, von der „Ökonomie der Kollaboration“ im vom deutschen Faschismus eroberten Frankreich bis zum Schmähgedicht Jan Böhmermanns. Vielfalt ohne Verzettelung, stilistisch großartig zu Papier gebracht, ohne Ermüdung, sondern mit dem Willen, denen, die nicht gehört werden, eine Stimme zu geben, eine Mahnung, sich die Welt nicht schöner zu machen, als sie ist. Eine Fundgrube, eine große Leistung.
Werner Rügemer:
Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet
Transatlantische Sittenbilder aus Politik und Wirtschaft, Geschichte und Kultur
Papyrossa-Verlag, Köln 2016, 226 Seiten
14,90 €
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